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Michael Butter ist Professor für amerikanische Literatur und Kulturgeschichte an der Uni Tübingen. Das Interview mit ihm entstand im Rahmen der Talk-Reihe «Wissenschaft persönlich».

Michael Butter, 40 Prozent der Amerikaner glauben, dass die Anschläge auf das World Trade Center im Jahr 2001 von der US-Regierung organisiert wurden. In Deutschland sind immerhin 13 Prozent dieser Ansicht. Sie aber nennen das eine Verschwörungstheorie. Wie können Sie sicher sein, dass sich so viele Menschen irren?

Weil es eine dieser Geschichten ist, die sagen, dass die Dinge anders geschehen seien als sie uns erzählt werden. Dass es im Hintergrund irgendwelche Bösewichte gebe, die die Strippen gezogen haben, um dunkle Ziele zu erreichen. Das ist genau das Wesen einer Verschwörungstheorie.

Wobei doch vieles unklar oder sogar dubios ist: Da liegen zwei Hochhäuser komplett in Trümmern und man findet den Ausweis eines Attentäters einfach auf dem Trottoir? Das ist doch gezinkt.

Auf den ersten Blick klingt das wirklich völlig unplausibel. Doch es wurden jede Menge Ausweise gefunden. Auch von Opfern. Nur liest man davon nichts in diesen Theorien. Und – meinen Sie wirklich, wenn die CIA den Anschlag inszenieren wollte, käme ihr nichts Gescheiteres in den Sinn, als den Ausweis eines Terroristen auf das Trottoir zu legen? Dieser Gedanke lässt sich noch weiter spinnen: Wenn die US-Regierung fähig ist, solche Ereignisse zu inszenieren, warum hat sie dann nicht auch Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden? Diese Inszenierung wäre ziemlich leicht gewesen – man hätte nicht mal in den Irak zu fahren brauchen, sondern hätte einen glaubhaften «Beweisfilm» in der Wüste von Nevada drehen können.

Aber es steht ausser Zweifel, dass die amerikanische Regierung von den Anschlägen profitiert hat. Die Stimmung im Land drehte sich, die Ausgaben für das Militär schossen in die Höhe.

Dass die Regierung davon profitiert hat, heisst nicht, dass sie die Anschläge inszeniert hat. Man darf nicht unterschätzen, wie gut Regierungen oder andere Gruppierungen darin sind, die Dinge, die ihnen in den Schoss gelegt werden, sofort auszunutzen. Das sieht dann danach aus, als wären sie dafür verantwortlich. So hat Erdoğan den Putschversuch in der Türkei dazu ausgenutzt, all die Dinge durchzusetzen, die er schon lange im Sinn hatte, etwa Verhaftungen von regimekritischen Militärs. Aber das belegt nicht, dass er den Putsch inszeniert hat.

Auch die Mondlandung soll gefälscht sein, und auch da gibt es einleuchtende Argumente: Auf den Fotos sieht man an den Füssen des Landegerätes keinen Staub, eine Flagge weht, dabei gibt es auf dem Mond keinen Wind …

Genau diese Unstimmigkeiten prangten während meines Studiums 1999 auf der Titelseite unseres Uni-Magazins. Ich war hin und weg, alles klang so überzeugend! Doch auf den folgenden Seiten kamen die Gegenbeweise. Die Flagge zum Beispiel weht gar nicht, sondern ist zerknittert, da sie im Raumschiff sehr klein zusammengefaltet war. Auf ähnliche Weise kann man sämtliche Argumente widerlegen. Und vor allem: Damals herrschte zwischen Russland und den USA ein hartes Wettrennen um die erste Mondlandung. Glauben Sie, die Russen hätten nicht sofort reklamiert, wenn sie auch nur das leiseste das Gefühl gehabt hätten, etwas gehe nicht mit rechten Dingen zu? Und die Filmtechnik in Hollywood war damals schon auf einem so hohen Niveau – wäre die Mondlandung inszeniert gewesen, hätte man bestimmt keine solchen Fehler gemacht.

Michael Butter im Live-Talk «Wissenschaft persönlich». Johanna Bossart

Michael Butter im Live-Talk «Wissenschaft persönlich».

Vielleicht haben die Amerikaner ja absichtlich Fehler eingebaut, um die Produktion realistischer erscheinen zu lassen?

Jetzt argumentieren Sie genau wie ein Verschwörungstheoretiker. Diese verdrehen Beweise gegen die Theorie in Beweise dafür. So wird die Tatsache, dass es keinen Hinweis auf eine Verschwörung gibt, gerade zum Hinweis auf die Verschwörung – weil jemand offensichtlich seine Spuren ganz ausgezeichnet verwischt haben muss.

Wenn sich solche Theorien so einfach widerlegen lassen, weshalb sind sie trotzdem so attraktiv?

Sie befriedigen ein menschliches Bedürfnis nach Kausalität. Wir wollen Zusammenhänge sehen. Es gab in den Sechzigerjahren Experimente, bei denen Psychologen ihren Versuchspersonen auf einem Bildschirm drei sich bewegende Punkte zeigten. Die Probanden erfanden dazu die besten Geschichten: Polizisten, die einen Verbrecher jagen, eine Mutter, die mit ihren zwei Kindern Fangen spielt, und so weiter. Unser Gehirn ist darauf gepolt, Verbindungen herzustellen. Und das machen Verschwörungstheorien ganz extrem. Da gibt es keinen Zufall mehr, alles wird zurückgeführt auf menschliche Absichten. So erlauben es Verschwörungstheorien, mit dem Finger auf einen Sündenbock zu zeigen, anstatt hinnehmen zu müssen, dass für viele Geschehnisse und Entwicklungen die unfassbar komplexen Strukturen unserer Globalisierung verantwortlich sind. Und wenn man einen Schuldigen ausgemacht hat, so kann man ihn vielleicht auch besiegen. So drücken Verschwörungstheorien immer auch ein Stück Hoffnung aus.

In Ihrem soeben erschienenen Buch analysieren Sie unter anderem die Sprache der ehemaligen Fernsehmoderatorin Eva Herman, die sich politisch gleichermassen pointiert wie auch vage äussert. Sie redet von unbestimmten Akteuren, die zu unbestimmten Zeiten Dinge tun, die dann aber klar beabsichtigte Folgen haben: die aktuelle Flüchtlingskrise.

Diese Vagheit ist klar Strategie. Je vager ein Verschwörungstheoretiker sich ausdrückt, desto mehr Interpretationsraum gibt man dem Publikum. So kann jeder seine eigenen Ängste in hineininterpretieren.

Sie zerpflücken auch die Vorträge des Schweizers Daniele Ganser.

Seine Methode ist, Fragen zu stellen. So nimmt sich der Verschwörungstheoretiker auch aus der Verantwortung. Er hat ja nicht gesagt, dass es so ist. Er hat nur gefragt. Aber Ganser und andere, die so vorgehen, suggerieren gleichzeitig, dass die offizielle Version falsch ist und es sich um eine Verschwörung handelt.

Aber es gibt doch reale Verschwörungen?

Natürlich gibt es die. Gab es schon immer. Der Mord an Julius Cäsar 44 vor Christus war so eine. Aber reale Verschwörungen haben viel kleinere Ausmasse als erfundene – und meist viel kurzfristigere Ziele. Wenn die Flüchtlingskrise, wie Herman es beschreibt, eine beabsichtigte Folge der Schengen-Abkommen wäre, hätte die Planung schon Anfang der 1980er-Jahre beginnen müssen. Damals war die Welt noch eine völlig andere. Da war noch die Sowjetunion, die Berliner Mauer stand, es gab kein Internet. Der Lauf der Welt lässt sich nicht über Jahrzehnte im Voraus planen.

Früher setzten die Menschen – wenn sie etwas nicht erklären konnten – einen Gott dafür ein. Funktionieren Religionen ähnlich wie Verschwörungstheorien?

Es gibt auf jeden Fall Parallelen. Karl Popper sagte, Verschwörungstheorien seien eine Reaktion sind auf die «Entzauberung der Welt». An die Stelle Gottes treten jetzt die Verschwörer: Alles ist geplant, alles hat seine Ordnung. Für viele Menschen ist es einfacher zu glauben, dass hinter Ereignissen wie 9/11 Strippenzieher stecken, anstatt zu akzeptieren, dass die Welt ein grosses Chaos ist. Und dass viele Dinge einfach geschehen, ohne dass jemand sie geplant hat.

Also sind Verschwörungstheorien ein Ersatz für Religion?

Nicht unbedingt. In arabischen Ländern zum Beispiel glauben viele Menschen gleichzeitig an Gott und an Verschwörungstheorien.

Auf YouTube gibt es Videos von Verschwörungstheoretikern wie Alex Jones, die sich Millionen von Menschen ansehen. Sind Verschwörungstheorien auch ein Geschäftsmodell?

Ja, ein wahnsinniges Geschäft. Jones zum Beispiel verkauft auch Produkte, die die Effekte einer angeblichen Verschwörung rückgängig machen sollen. Er behauptet, die Regierung mische Stoffe ins Trinkwasser, die die Bevölkerung gefügig machen. Und er verkauft das Gegenmittel. Damit setzt er sehr viel Geld um.

Vieles ist so absurd, dass man eigentlich nur lachen kann. Wenn jemand zum Beispiel glaubt, die Erde sei eine Scheibe. Sie aber sagen, Verschwörungstheorien seien eine Gefahr für unsere Gesellschaft?

Viele Verschwörungstheorien sind tatsächlich harmlos. Wenn jemand glaubt, Angela Merkel sei in Wahrheit ein Reptiloid – ein echsenähnliches Wesen –, kann ihr das egal sein. Deswegen zieht vermutlich keiner los und macht ein Attentat. Völlig anders, wenn sich eine Verschwörungstheorie gegen Minderheiten wie Geflüchtete in Asylbewerberheimen richten. Hier kann das zu einem Motor für Gewalttätigkeit werden. Und dann brennen die Asylbewerberheime. Und die Täter fühlen sich im Recht, weil sie ja die scheinbar bedrohte Heimat verteidigen. Die grösste Gefahr sehe ich aber darin, dass sich Menschen wegen Verschwörungstheorien aus dem demokratischen Leben zurückziehen. Wenn sie beispielsweise glauben, alle Parteien stecken unter einer Decke, sehen sie keinen Grund mehr, wählen zu gehen.

Wie soll man mit Leuten reden, die solches glauben?

Wichtig ist, dass man nicht aufhört mit ihnen zu sprechen. Ich mache das selbst auch so. Ich antworte auf alle Zuschriften die ich erhalte – mindestens das erste Mal. Die Leute sind dann manchmal ganz positiv überrascht: Oh, der schreibt ja zurück. Das hilft, Gräben zu überwinden, auch wenn es natürlich noch niemanden überzeugt. Man sollte aber keinesfalls mit der Keule kommen, das sei doch eine Verschwörungstheorie. Das wird als beleidigend empfunden. Man muss Fragen stellen: Ist es nicht ein Widerspruch, was du sagst? Gerade im Familienkreis muss man sich über lange Zeit damit auseinandersetzen. Wenn es sich um Theorien handelt, wie dass Impfen angeblich Autismus verursacht, muss man Stellung dazu beziehen. Das betrifft jeden, und man muss – je nachdem von was man überzeugt ist – Konsequenzen in seinem eigenen Leben ziehen.

Serie

Die Macht von Verschwörungstheorien


Im zweiten Teil dieses Interviews liest du morgen Freitag: Wer ist am anfälligsten für Verschwörungstheorien? Was haben die Theorien gemeinsam mit dem Populismus? Und wie gefährlich lebt Michael Butter?

Buchtipp

«Nichts ist, wie es scheint»
von Michael Butter
edition suhrkamp
ISBN 978-3-518-07360-5
Fr. 25.90

Wissenschaft persönlich

«Wissenschaft persönlich» ist ein Live-Event, in dem Gäste aus der Wissenschaft nicht nur über Fakten reden, sondern auch über sich selbst – über ihre Begeisterung, ihre Niederlagen und ihre Träume. Der rund einstündige Talk findet regelmässig statt.
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