Das musst du wissen

  • Jede Katastrophe wird in eine gesellschaftliche Erzählung eingebettet, um sie zu verarbeiten.
  • Diese Erzählungen ähneln sich – sie passen nicht nur spezifisch zu einer Katastrophe.
  • Solche Erzählungen hat die Historikerin Katja Patzel-Mattern untersucht.
Den Text vorlesen lassen.

Frau Patzel-Mattern, Sie untersuchen Katastrophenerzählungen. Wodurch zeichnet sich die Deutung der Explosion in Beirut aus?

Es gibt derzeit zwei Erzählungen, die die Deutung vor allem in westlichen Medien dominieren: Einerseits dreht sich die Einbettung der Katastrophe um Korruption und Misswirtschaft der libanesischen Eliten. Dadurch wird die Verantwortung des Geschehens personalisiert. Zweitens ist da die langfristige Krisenerzählung: Der Weg des Elends wird beschrieben vom Bürgerkrieg über die Finanzkrise bis zur Explosion. Beide Erzählstränge fügen sich aber in die Grosserzählung ein, die in der Moderne vorherrscht: Sie besagt, dass technischer Fortschritt und die Beherrschung der Natur grundsätzlich zu Wohlstand führen – ausser der Fortschritt wird wie in diesem Fall behindert.

Katja Patzel-Mattern

Katja Patzel-Mattern nahm 2009 den Ruf der Universität Heidelberg auf
eine Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an. Die Historikerin ist Mitglied des Senats der Universität Heidelberg und ab Oktober Dekanin der Philosophischen Fakultät. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben Industrieunfällen und Arbeitsbeziehungen als Teil der Industriegeschichte die Wissensgeschichte und die historische Zeitforschung. Insbesondere interessiert sie sich für Formen der Aneignung und Kommunikation historischer Erfahrungswelten.

Aber es ist doch alternativlos, dass die Geschichte der Explosion so erzählt wird? Kernproblem sind ja nun einmal Misswirtschaft und Korruption.

Nicht unbedingt. Deutungen von katastrophalen Ereignissen sind nicht so einzigartig, wie man denken würde. Wenn man die Deutungen von Katastrophen vergleicht, sieht man, dass sie nicht nur diesen spezifischen Einzelfall betreffen. Es lassen sich immer wieder ähnliche Erzählungen ausmachen.

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Welche sind das?

Es gibt drei unterschiedliche Möglichkeiten, wie Katastrophen in das Verständnis der Moderne eingebettet werden können. Erstens: Sie werden personalisiert, die Schuld also bei einer oder mehreren Personen gesucht. Zweitens: Die Schuld wird in einem System gesucht. Dieses System kann das politische System vor Ort sein oder es ist ein globales Ordnungssystem wie zum Beispiel die Blockbildung im Kalten Krieg. Drittens: Der Grund der Katastrophe liegt in der Strafe Gottes oder in der Natur, die zurückschlägt. Aktuell ist der Klimawandel das häufigste Motiv, das hier dominiert. Der Grund liegt hier also ausserhalb der direkten Einflussnahme der Gesellschaft.

Wofür brauchen wir überhaupt solche Erzählungen?

Die erste Reaktion auf eine Katastrophe ist immer Entsetzen. In diesem Wort steckt bereits, dass Katastrophen die Dinge verrücken, also Chaos stiften. Etwas gerät ausser Fassung. Etwas nicht Greifbares geschieht. Die Erzählung, das Narrativ, dient dazu, dem Ereignis einen Sinn zu geben und so wieder handlungsmächtig zu werden. Erzählungen ordnen Unerklärliches und schaffen so neue Handlungsoptionen.

Wandeln sich solche Erzählungen über die Zeit?

Nur langsam. Historisch gesehen haben Katastrophen ihre Einzigartigkeit verloren: 1921 passierte in Ludwigshafen die grösste Industriekatastrophe ihrer Zeit – auch eine Explosion von Ammoniumnitrat. Sie war in ihrem Ausmass für die Zeitgenossen unvergleichlich. Das gilt für spätere Industriekatastrophen nicht mehr. Sie greifen stets auf frühere Katastrophenerfahrungen zurück. Neue Katastrophen werden in der Berichterstattung deshalb in eine Reihe von Unfällen eingeordnet. So wird die Katastrophe an sich zum permanenten Warnzeichen der technisch-industriellen Moderne: Das Risiko einer Katastrophe ist in dieser Moderne eingeschrieben und erwartbar. Die Berechnung der Unfallgefahr von Atomkraftwerken und die Erfahrungen von Tschernobyl und Fukushima zeigen dies. Solange wir Technik nutzen, können wir der Logik der Katastrophe nicht entgehen. Lange war die Reaktion darauf: «Wir müssen die Natur noch besser beherrschen». Bei der Explosion von Beirut kommt nun aber die Frage auf: Warum waren derart grosse Mengen gelagert? Wofür hätte dieses Produkt überhaupt genutzt werden sollen? So wird auch die technisch-industrielle Produktion in Frage gestellt.

Die reine Existenz von Ammoniumnitrat wird in der Berichterstattung aber nicht hinterfragt.

Das liegt womöglich an der Janusköpfigkeit dieses Produktes. Als chemischer Dünger dient es dazu, die Ausbeute aus der Landwirtschaft zu steigern und so die Welternährung sicherzustellen. Er steht also für Wohlstand durch Technik. Andererseits kann aus Ammoniumnitrat auch Sprengstoff hergestellt werden. Dieser findet in Kriegen oder bei terroristischen Anschlägen Verwendung. Das Geschäft mit diesem Material ist lukrativ und verfügt über eine grosse Lobby.

Was bringt es eigentlich, über das Narrativ der Krisenrezeption nachzudenken?

Wir können dadurch verstehen, wie Sinn gestiftet wird. Wie der Mensch angesichts katastrophaler Erfahrungen in die Lage versetzt wird, nicht aufzugeben, sondern wiederaufzubauen. Auch wenn man aus der Geschichte kein unmittelbares Handlungswissen für die Gegenwart gewinnen kann, lernen wir aus der historischen Untersuchung von Katastrophennarrativen, wie sich Gesellschaften selbst stabilisieren.

Wird das im Libanon gelingen?

Die Frage ist: Gelingt es den verantwortlichen Eliten vor Ort, ihre eigene Macht zu stabilisieren? Der Delegitimierungsprozess dieser Eliten war bereits vor der Explosion im Gang. Die Katastrophe treibt diesen Prozess nun weiter voran. Gerade Narrative dienen der Legitimierung – und die Narrative, die gegenwärtig im Libanon herrschen, dienen eben nicht der Legitimierung der Elite. Legitimität neu zu gewinnen ist allerdings sehr schwierig – auch für eine neue Regierung. Die Proteste, die nach der Explosion aufflammten, zeigen genau diese fehlende Legitimität. Die Hauptfrage ist nun nicht, ob es den Demonstranten und dem Land gelingt, die Strukturen von heute auf morgen zu ändern – sondern ob das in den nächsten Jahren und damit nachhaltig funktioniert.

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