Was der St. Galler Klostergründer Otmar nicht schaffte, gelang Abt Gozbert ab dem Jahr 816. Er erhielt ein Immunitätsprivileg vom Kaiser, was weniger Abhängigkeit vom Bistum Konstanz und freie Abtwahl bedeutete.

Unter Gozbert gewann das Kloster durch Zuwendungen Form und Bedeutung. Denn wer nicht im Fegefeuer unendlich lang leiden wollte, sah sich auf Erden vor. Durch Legate ans Kloster blieb ein gutes Auskommen zu Lebzeiten gewahrt und nach dem Tod öffnete sich dadurch der Zugang zum Himmel, so der Glaube damals. Um 820 traf von der Insel Reichenau in St. Gallen ein minutiöser Plan auf Pergament ein. Ein Geschenk, das Ideen für die Erweiterung der Klosteranlage in St. Gallen lieferte.

830 wurde mit dem Neubau der Gallusbasilika begonnen, wobei unklar ist, wie stark diese Umsetzung vom Klosterplan aus Reichenau geleitet war. Gozbert wirkte bis 837 als Abt und starb wohl 13 Jahre später.

Für ein Wochenende

An der Peripherie der Schweiz bietet St. Gallen neben dem Stiftsbezirk – eine Oase der Ruhe – eine schöne verkehrsfreie Altstadt, die besonders in der Nachtbeleuchtung eine grosse Faszination entfaltet, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Seit April 2019 ist der Klosterplan im neu gestalteten Gewölbekeller der Stiftsbibliothek und des St. Galler Stiftarchivs zum ersten Mal für jeweils wenige Sekunden zu sehen, um den aus fünf Pergament-Teilen zusammengenähten Plan zu schonen. Ende des 12. Jahrhunderts nutzte ein Mönch die grosse Pergament-Fläche (112 x 77,5 Zentimeter), um auf der Rückseite die Geschichte des heiligen Martin aufzuschreiben. Da der Platz nicht ausreichte, steht der letzte Teil auf der linken unteren Seite des Klosterplans.

Der Plan von der Insel

Das Benediktinerkloster auf der Insel Reichenau wurde im Jahr 724 gegründet.Der Legende nach fand Primus die Insel im Bodensee voller Schlangen und Kröten vor. Diese flohen, als er eine Quelle zum Sprudeln gebracht habe. Danach habe er die stark überwachsene Insel gerodet. Unter Abt Haito, der von 806 bis 823 wirkte, entstand das Marienmünster in Mittelzell, das heute zum Unesco-Weltkulturerbe gehört.

Das Kloster wurde in der einzigartigen Landschaft zu einem wichtigen kulturellen und wissenschaftlichen Zentrum des Reiches der Karolinger und Ottonen im Frühmittelalter. So war die Insel Reichenau auch Wirkungsstätte des Abts Walahfrid Strabo, der im Jahre 824 die «Visio Wettini» (Die Vision Wettis) und das frühe botanische Werk «Liber de cultura hortorum» (Buch über der Pflege der Gärten) schrieb. Die Visio beschreibt die von Abt Haito in Prosa festgehaltene Sterbevision seines Lehrers Wetti.

Es handelt sich dabei um die früheste dichterische Umsetzung einer Jenseitsvision. Walahfrid Strabo schildert, wie Wetti unter Führung eines Engels durch das Fegefeuer wandert und dort die Bestrafung der verschiedensten Sünder beobachtet. Karl der Grosse muss zum Beispiel für sein ausschweifendes Sexualleben büssen. Ihm wird von einem Hund das Geschlechtsteil weggebissen, worauf es gleich wieder nachwächst.

Mit der Visio kamen die Klöster in Reichenau und St. Gallen zu erheblichem Vermögen, denn die Adligen – auch Karl der Grosse – liessen durch grosszügige Schenkungen für ihr Seelenheil beten. Kurz: Reichenau war ein spirituelles und kreatives Zentrum. So erstaunt es nicht, dass dort auch die Idealvorstellung eines Klosters auf Pergament gebracht wurde.

Die Initiative dafür muss von Abt Haito ausgegangen sein, was seine Mönche inspirierte, ihre Ideen einzubringen. So erklärt sich auch, dass der Plan an den Rändern recht vage wird, weil offenbar diese und jene Ideen noch dazukamen, sei es eine Krankenabteilung für Mönche oder Spezialstallungen für besondere Tiere mit Wohnungen für deren Betreuer.

Der Klosterplan wurde schliesslich als Geschenk von Abt Haito dem neuen St. Galler Abt überbracht und ist als Ideenfundus für St. Gallen zu verstehen. Der Klosterplan ist mit 1200 Jahren der älteste Architekturplan und deshalb von unschätzbarem Wert.

Die Kirche des Klosters Reichenau, wo der Klosterplan gezeichnet wurde.
Die Kirche des Klosters Reichenau, wo der Klosterplan gezeichnet wurde.
Rekonstruktion des Reichenauer Klosterplans aus dem 19. Jahrhundert
Der Klosterplan faszinierte auch im 19. Jahrhundert: Diese Rekonstruktion des Reichenauer Plans wurde vom Kunsthistoriker Johann Rudolf Rahn 1876 angefertigt.
Die barocke Klosteranlage in St.Gallen hat mit dem Entwurf aus Reichenau wenig Ähnlichkeit. Wie viel von dem Plan in die vorangegangenen mittelalterlichen Bauten einfloss, ist nicht geklärt.

Ein begehbarer Klosterplan

Alles begann im burgundischen Guédelon. Dort entsteht eine Burg, ein Rekonstruktionsbauprojekt, mit Techniken des 13. Jahrhundert. Nach 25 Jahren Arbeit ist die Fertigstellung der Burg für das Jahr 2023 geplant. Diese Burg haben der Deutsche Bert Geurten und die Schweizerin Verena Scondo besucht und waren danach so begeistert, dass 2005 die Idee heranreifte, ein ähnliches Projekt in Deutschland zu realisieren. Auf der Hand lag der Nachbau des St. Galler Klosterplans.

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Die grosse Herausforderung für die zwei bestand darin, ohne Geld ein geeignetes Grundstück für das Vorhaben zu finden. «Es brauchte einen alten Baumbestand, Lehmboden, Steine und Wasser, und es musste ab vom Verkehr liegen», erinnert sich Verena Scondo. Oft seien sie nur zu Gesprächen eingeladen worden, weil man wohl sehen wollte, wie zwei absolut Verrückte aussehen.

Aber die verrückte Idee schlug ein – nach etwa 50 Absagen. Seit August 2012 wird der karolingische Klosterplan in der Nähe der baden-württembergischen Kleinstadt Messkirch auf 28 Hektar nachgebaut. Inzwischen hat die Realisierung so konkrete Formen angenommen, dass im vergangenen Jahr bereits 83 000 Besucherinnen und Besucher verzeichnet wurden, die mit dem Eintritt einen wichtigen Kostenbeitrag leisten. Die Gemeinde Messkirch hatte sich an den Startkosten mit einer Million Euro beteiligt und heute fliessen aus mehreren Töpfen Zuschüsse. Denn Messkirch rechnet mit einem touristischen Aufschwung durch den Campus Galli. Bis heute scheint die Rechnung aufzugehen. Das Freilichtmuseum könnte im nächsten Jahr selbsttragend werden.

Die Arbeit ist das Ziel

Heute beschäftigt der Campus 35 Angestellte, die von April bis Oktober auf dem Campus arbeiten. Begleitet von einem wissenschaftlichen Beirat führt der Archäologe Hannes Napierala die Bauarbeiten, die strikt mit den Techniken von damals ausgeführt werden.

Keine Motorsägen, keine Lastwagen, sondern die gleichen Verhältnisse wie im Jahr 820 sollen das Geschehen auf dem Campus bestimmen. Zuerst wurde nach der Rodung einer ersten Fläche Wald die Infrastruktur für die Bauten eingerichtet, um die entsprechenden Werkzeuge herzustellen. Es handelt sich um Bauhütten für Drechsler, Schmiede, Töpfer, Weber usw. Nach fünfjähriger Bauzeit steht die Holzkirche.

Obwohl es sich hier um ein Freilichtmuseum handelt, hat der Innenraum der Kirche eine starke sakrale Ausstrahlung. Und vor wenigen Wochen wurde das kunstvoll geschnitzte Holzkreuz im Klostergarten aufgerichtet. Bis zum Einbruch des Winters wird an der Fertigstellung einer grossen Scheune gearbeitet. Dann ruhen die Arbeiten bis zum Frühling.

Das Dach der Holzkirche wurde mit handgespaltenen Schindeln gedeckt.
fast fertige Klosterkirche.
Ein grosser Meilenstein: Die Kirche ist ein Beweis dafür, dass Klosterkirchen lange aus Holz gebaut wurden.
Innenraum der Kirche
Im Innenraum der Kirche steht ein Altar...
Transport der Altarplatte - ca 400kg - in die Holzkirche
... dessen rund 400 kg schwere Platte mit den Möglichkeiten des frühen Mittelalters in die Kirche getragen wurde.
Die Chorschranken und Pfeiler des Altarbaldachins werden mit Ornamenten verziert.
Der Töpfer dreht einen kleinen Topf auf dem Töpferrad
Nicht nur das Werkzeug, auch die Baustoffe werden nach Mittelalterart selber produziert. Hier wird mit selbst gewonnenem Lehm getöpfert.

Hannes Napierala erklärt, warum man auf dieser Baustelle für alles Lehrgeld bezahlen muss. «In vielen Punkten fehlt das konkrete Wissen.» Der Archäologe bemüht sich, mit Recherchen und Abklärungen möglichst nahe an die damalige Formgebung und Arbeitsweise zu kommen. Über einen Mangel an freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kann er sich dabei nicht beklagen. «Wir haben eine lange Warteliste und müssen Interessierte auch abweisen.» Aber es bleibt noch viel Zeit. Napierala rechnet noch mit 40 Jahren Bauzeit. «So genau kann man das nicht vorhersagen.» Sicher ist aber schon heute: «Die grösste Herausforderung wird die Kathedrale aus Stein.»

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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