Das musst du wissen

  • Forschende entdeckten die bisher erste Muschelschale aus dem Paläolithikum, die als Blasinstrument gedient haben soll.
  • Die Muschel erzeugt tiefe, kräftige Töne. Bei welchen Gelegenheiten das Instrument einst genutzt wurde, ist unklar.
  • Der Fund wirft Licht auf die musikalische Vergangenheit oberpaläolithischer Gesellschaften, die bisher unbekannt war.

Archäologische Schätze lagern nicht nur in Fundgruben, sondern auch in Museen. Dies zeigt das Beispiel einer Muschelschale aus dem Paläolithikum. Ursprünglich wurde sie 1931 bei der Ausgrabung der Marsoulas-Höhle in den Pyrenäen gesammelt und nun von Prähistorikern im Naturhistorischen Museum in Toulouse neu entdeckt und genau untersucht. Das Ergebnis: Bei der knotentragenden Tritonschnecke Charonia lampas handelt es sich wohl nicht um eine Liebesmuschel, sondern um ein Blasinstrument, wie sie im Fachmagazin Science Advances berichten.

Was daran neu ist. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben Prähistoriker eine Fülle von materiellen Zeugnissen des paläolithischen Lebens gesammelt, beispielsweise Feuersteine, Knochen oder Rentiergeweihe. Fast nichts stammt dabei aber aus dem immateriellen Klanguniversum unserer Vorfahren. Und das aus gutem Grund: Klänge versteinern nicht, und die meisten Musikinstrumente, die aus verrottbarem Material wie Holz oder Haut bestehen, tun dies auch nicht. Nicht so aber Muscheln, wie die neuentdeckte aus den Pyrenäen.

Eine Premiere. Diese Entdeckung ist, was Blasinstrumente betrifft, einmalig. So kennen wir heute höchstens einige 35 000 bis 40 000 Jahre alte Geierknochenflöten, die im französischen Baskenland oder in Deutschland ausgegraben wurden. Man vermutet, dass auch steinbasierte Schlaginstrumente existieren, aber aus der Steinzeit wurde bisher kein Lithophon entdeckt.

Die Geschichte dieser Entdeckung. Über achtzig Jahre lang sass die Tritonschnecke von Marsoulas unbehelligt im Keller des Naturkundemuseums von Toulouse. Wie kam sie in eine Höhle der Pyrenäen, die 300 Kilometer von der nächsten Küste entfernt ist?

Die Experten vermuteten dahinter die Neugier der Magdalenen – so hiessen die Menschen, die in jenen kalten Tagen in Europa lebten – und auch auf ihre Vorliebe für Schmuck. Doch als Guillaume Fleury, der Verantwortliche für die prähistorischen Sammlungen des Museums, einfach mal spielerisch in die Schale blies, gingen ihnen Augen und Ohren auf: Es erklang ein tiefer Ton mit lang anhaltendem Nachhall.

Das Blasinstrument. Bei Nahaufnahmen und anschliessender Röntgentomographie – einem bildgebenden Verfahren, das das Innere eines Objekts sichtbar macht – zeigte sich: Menschen hatten die Tritonschnecke von Hand bearbeitet, um Töne zu produzieren.

Der Musikwissenschaftler und Hornbläser Jean-Michel Court hat es sogar geschafft, drei Töne zu erzeugen: C, Cis und D. Ihm zufolge wurde ein Mundstück aus Holz oder Vogelknochen daran befestigt, wahrscheinlich mit Hilfe eines organischen Materials wie Harz oder Wachs. Deren Überreste reichen für eine Identifizierung jedoch nicht aus.

Weit davon entfernt, ein rudimentäres Objekt zu sein, ermöglicht diese Art von Muschel eine breite Palette von Klängen. Das dies möglich ist, beweist der Jazzer Steve Turre, der  Schneckenhörner in seinen Konzerten mit verblüffender Virtuosität einsetzt. Indem er seine Hand in die Muschelöffnung hineinschiebt, wie es ein zeitgenössischer Hornist tut, schafft es Turre sogar, Zwischentöne zu erzeugen.

Diese Technik könnte den Magdalenern bekannt gewesen sein. Dies würde auch erklären, warum sie einen Teil des Schneckengehäuses herausschnitten: Um die Hand besser hineinschieben zu können. Und wenn der Musikwissenschaftler aus Toulouse nur drei Töne hervorbrachte, dann nur, weil die scharfen Kanten der Muschel es ihm nicht erlaubten, seine Lippen richtig zu platzieren.

Die musikalische Funktion. Trotzdem sollte man sich nicht vorstellen, dass einer unserer Vorfahren eine Jamsession machte, während die anderen, an die Theke gelehnt, Stutenmilch schlürften. Musik zum Vergnügen ist eine sehr moderne Vorstellung. Carole Fritz, Prähistorikerin von der Universität Toulouse und Erstautorin der Studie, berichtigt:

«Sagen wir lieber, dass in diesen Gesellschaften, die noch keine Schrift kannten,  Musik mit etwas anderem als reinem Vergnügen verbunden war. Es gab immer eine Verbindung zwischen dem Alltäglichen und dem Symbolischen.»

Symbolisch betrachtet gibt das Vorhandensein einer so grossen Muschel mehr als 300 Kilometer von ihrem natürlichen Lebensraum, der Atlantikküste Spaniens, entfernt, den Forschern zu denken. Zwar wurden auch andere Artefakte, wie Halsketten aus Muscheln oder Walfischknochen gefunden, was bezeugt, dass der Austausch zwischen den Bergen und der Küste nicht selten war. Wie jedoch ein Objekt aus dem Meer in die Berge kommt, ist nicht einfach zu erklären. Und auch die genaue Fundstelle, an der die Muschel 1931 entdeckt wurde, wirft Fragen auf. Sie lag in der Mitte des Höhleneingangs. Wurde sie dort bewusst zur Schau gestellt?

Ein religiöses Symbol? Auf der Suche nach besser dokumentierten Beispielen vertiefte sich das Forschungsteam um Carole Fritz in die ethnologische Literatur. Die Tritonschnecke erinnert an die Muscheln, die in vielen Kulturen von Polynesien über Tibet bis zu den Maya zu finden sind.

Laut dem inzwischen verstorbenen Musikethnologen Gilbert Rouget wurden die Muscheln von diesen Völkern weniger wegen ihrer akustischen Qualitäten als vielmehr als Objekte gewählt, denen bestimmte magische oder religiöse Darstellungen anhaften. War es vor 18 000 Jahren auch so? Die Forscherin Carole Fritz sagt:

«Wir wissen, dass Muscheln oft zum Rufen verwendet wurden. Wen? Wie? Warum? Was die Magdalener angeht, interessieren uns diese Fragen sehr.»

War es, um sich mit den Vorfahren zu verbinden, wie sie es in Papua-Neuguinea taten? Oder sollte es ein anderes Ritual begleiten, das in der Marsoulas-Höhle stattfand?

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Die Verbindung zur Höhle. Ein Detail überzeugt die Forschenden davon, dass es eine sehr starke symbolische Verbindung zwischen der Tritonschnecke und dem Ort ihrer Entdeckung gibt. Mit blossem Auge kann man noch gepunktete ockerfarbene Spuren auf der Innenseite der Schale erkennen, die mit den Fingern aufgetragen wurden. Auch eingravierte Linien in derselben Farbe sind zu sehen. Marsoulas ist bekannt als eine der am reichsten verzierten Höhlen in den Pyrenäen, deren Wände mit einer Vielzahl von Punkten und Linien aus Ocker bedeckt sind. In der Manier der Pointillisten hat ein Magdalener Künstler oder eine Künstlerin einen getüpfelten Bison gemalt, der über einen Meter breit ist und ganz auf roten Fingerabdrücken basiert. Carole Fritz ist überzeugt:

«Es besteht eine enge Verbindung. Was das bedeutet, weiss ich nicht und werde es nie erfahren. Wir Archäologen sind sehr frustriert, besonders was die frühen Zeiten angeht, und wir werden es für den Rest unseres Lebens bleiben.»

Frustriert, aber hartnäckig. Denn das Team aus Toulouse, das sich um die Tritonschnecke gebildet hat, will alle Töne, die die Muschel erzeugen kann, mathematisch modellieren und in der Höhle von Marsoulas zum Klingen bringen. Wenn es dort Zonen gibt, in denen der Klang auf eine bestimmte Art und Weise erklingt oder nachhallt, wird dies gemessen, quantifiziert und mit den Figuren, die die Wände zieren, verglichen, um einen aufschlussreichen Zusammenhang herzustellen.

Ein musikalischer Blick auf die dekorierten Höhlen. Nach Marsoulas könnte die Chauvet-Höhle, die zwischen Montélimar und Nîmes liegt, auf dem Programm stehen. Denn von nun an kann man den verzierten Höhlen einen neuen Blick, oder besser gesagt, ein neues Gehör schenken, um ihre Geheimnisse zu enträtseln.

Die Modellierung aller möglichen Geräusche impliziert nicht, dass die prähistorischen Völker sie in ihrer Gesamtheit auch produzierten. Vor allem stellt sich die Frage: Was ist ein Klang für ein Ohr von vor 18 000 Jahren? Die Harmonien, die wir kennen, sind kulturell bedingt. Es ist unwahrscheinlich, dass unsere Vorfahren dieselben schätzten.

Ein weiteres mögliches Projekt ist die erneute Untersuchung der Muschelreste aus paläolithischen Ausgrabungen. Die sehr sorgfältigen Bearbeitungen der Marsoula-Schnecke legen nahe, dass sie weder die erste noch die einzige ihrer Art ist. Carole Fritz fügt hinzu:

«Und wenn jemand damit gerufen hat, können Sie sich vorstellen, dass ein anderer auf die gleiche Weise geantwortet hat.»

Vielleicht gibt es in anderen Höhlen Fragmente von Tritonschnecken, die nur als Essensreste interpretiert wurden. Eines ist sicher: Es gab die Trompeten von Jericho, jetzt wird es die Muscheln von Marsoulas geben.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

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Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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