Das musst du wissen
- Der Rückstand der Schweizer Pandemiewelle zu Österreich ist tendenziell geringer als die Taskforce berechnet.
- Die Zahlen zu den Hospitalisierungen beweisen, dass die Boosterimpfung das Potenzial hat, Leben zu retten.
- Für den besten Booster-Effekt müssten Kantone so viele Dosen verimpfen wie im Sommer. Danach sieht es zurzeit nicht aus.
Prognosen über die künftige Entwicklung sind in der aktuellen Pandemie unerlässlich – aber auch schwierig. Daran haben auch zwei Jahre intensiver Forschung zu Covid-19 nichts geändert. Im Gegenteil: Die Situation ist immer komplexer geworden. Inzwischen gibt es Geimpfte, Genesene, infektionsverhindernde Massnahmen, neue ansteckendere Varianten – für jede unbekannte Grösse, die Forschende entschlüsseln, kommt gefühlt eine neue Unbekannte ins Spiel.
Das stellt die Schweizer Science-Taskforce vor eine grosse Aufgabe: Gelingt ihr eine adäquate Prognose der Situation? higgs hat die brisantesten Zahlen nachgerechnet.
«Drei bis fünf Wochen zeitliche Verzögerung zu Österreich»
Die vierte Welle ist in Österreich bereits deutlich weiter fortgeschritten als in der Schweiz. Bis zum jüngsten Lockdown war das Wachstum der Fallzahlen in Österreich exponentiell – wie derzeit in der Schweiz. Folgerichtig blickt die Taskforce zu unserem östlichen Nachbarn und kommt zum Schluss: Bezüglich der Fallzahlen sei die Schweiz rund drei Wochen hinterher, bezüglich der Hospitalisationen fünf Wochen.
Das ist zunächst plausibel:
- Inzidenz: Die relative Häufigkeit von Infektionen, lag im Sieben-Tage-Mittelwert in der Schweiz am 22. November bei rund 600 Fällen pro Million Einwohner. Das entspricht dem Wert in Österreich am 1. November – also genau drei Wochen zuvor .
- Hospitalisierungen: Am 22. November waren schweizweit 933 Menschen aufgrund von Covid-19 hospitalisiert – das sind 108 Hospitalisierte pro Million Einwohner. Diesen Wert erreichte Österreich am 27. Oktober. Der Rückstand beträgt bei der Hospitalisierung also knapp vier Wochen entgegen der von der Taskforce berechneten fünf Wochen, was aber an unterschiedlich gewählten Tageswerten als Berechnungsgrundlage liegen kann.
Insgesamt erweist sich jedoch die Aussage, dass dies eine «zeitliche Verzögerung von rund 3–5 Wochen» sei, als problematisch: Zwar ist dies rückwirkend auf die vergangenen Zahlen richtig. Aber Aussagen hinsichtlich der Zukunft sind nur sehr bedingt möglich. Denn: Vergleicht man die täglichen Infektionszahlen mit dem Wert von jeweils einer Woche zuvor, stellt man fest, dass sich die Zahlen in der Schweiz ziemlich stabil wöchentlich um die Hälfte steigen. Geht man nun vom aktuellen Stand der Infektionszahlen und gleichbleibender Dynamik aus, erreicht die Schweiz den Tageshöchstwert Österreichs bereits in zwei Wochen. Es bleiben also keine drei bis fünf Wochen mehr, bis die Pandemie bei uns ein Ausmass wie in Österreich erreicht. Folgerichtig prognostiziert die Taskforce eher unspezifisch, dass wir «im Laufe des Dezembers» eine epidemiologische Situation wie zuletzt in Österreich haben.
Zwei Wochen – wie wurde diese Zahl berechnet?
738*1,509^x=1769
Wobei «x» die Anzahl Wochen bis zum Höchststand in Österreich ist. Aufgelöst ergibt dies: 2,125 Wochen oder knapp 15 Tage. Damit würde die Schweiz den Höchststand Österreichs am 8. Dezember erreichen.
«Die dritte Impfung kann 10 000 – 20 000 Hospitalisierungen bei den über 70-Jährigen verhindern»
Die Schweiz bewegt sich also schnell in eine heftige Welle – wie viel nützt da die Booster-Impfung? Die Prognose der Taskforce ist aufgrund verschiedener Zahlen, die auf Basis statistischer Hochrechnungen berechnet werden, nicht besonders präzise. Doch sie ist nachvollziehbar, wenn man die notwendigen Werte kennt. Aber Achtung, die Rechnung ist nicht besonders einfach:
- Am wichtigsten ist die Schutzwirkung der Impfung vor einer Hospitalisierung. Studien haben gezeigt, dass frisch Geimpfte nach der zweiten Dosis eine Schutzwirkung von 96 Prozent vor einem schweren Verlauf haben. Vier Prozent landeten also trotz Impfung im Spital. Oder anders gesagt: Eine geimpfte Person muss nach Viruskontakt 25-mal seltener ins Krankenhaus als eine ungeimpfte infizierte Person.
- Mit der Zeit sinkt der Schutz: Die Taskforce geht davon aus, dass er bei über 70-Jährigen nach sechs Monaten nur noch etwa bei 86 Prozent liegt – geimpfte Personen müssen dann also noch rund siebenmal seltener wegen Covid-19 ins Krankenhaus als ungeimpfte.
- Die Dritte entscheidende Grösse ist das Risiko für Hospitalisierungen bei Ungeimpften. Hier gibt es Daten von vor der zweiten Welle: Damals mussten rund 17 Prozent aller Menschen über 80 ins Spital, sechs Prozent aller über 70-Jährigen. Dieses Grundrisiko sinkt, je nach Schutzwirkung der Impfung um das sieben- bis 25-fache.
- Die entscheidende Annahme ist nun, dass in einer ungebremsten Welle die gesamte Schweizer Bevölkerung noch einmal mit dem Virus in Kontakt kommt: Manche werden durch ihre Antikörper komplett geschützt, manche haben einen milden Verlauf, einige haben einen schweren.
Je nachdem, wie lange die Impfung her ist, müssen also mehr oder weniger Menschen ins Spital. Für viele ältere Menschen liegt die zweite Dosis bereits sechs und mehr Monate zurück. Erhalten sie den Booster, sinkt ihr Hospitalisierungsrisiko. Damit kann man zwei Szenarien mit unterschiedlicher Schutzwirkung bei den Älteren aufstellen: 96 oder 86 Prozent – mit oder ohne Boosterimpfung. Die Differenz dieser beiden Szenarien zeigt die Anzahl Hopsitalisierungen, die mit dem Booster verhindert wird.
Berechnet man diese Differenz, so kommt man ziemlich genau auf 10 000 verhinderte Infektionen. Dieser Berechnung liegt jedoch das Spitaleinweisungs-Risiko der früheren Varianten zugrunde. Die Delta-Variante könnte bis zu doppelt so viele Spitaleinweisungen verursachen. Damit würde die Impfung auch mehr Hospitalisierungen verhindern: Entsprechend hat die Taskforce die Berechnung nach oben ergänzt: 10 000 bis 20 000 verhinderte Hospitalisierungen.
20 000 Hospitalisierungen – wie berechnet sich die Zahl konkret?
Hiermit können wir die Zahl der verhinderten Spitaleinweisungen berechnen: Mitte des Jahres waren rund 600 000 Personen von 70 bis 79 und 400 000 Personen über 80 geimpft. Bei dieser Gruppe hat der Impfschutz ohne Booster bereits nachgelassen. Diese Zahlen können wir in die Tabelle des durch die Impfung verminderten Hospitalisierungs-Risikos von oben eintragen. Wir erhalten die Zahl der Hospitalisierungen mit Booster (96 Prozent Schutz) und ohne Booster (86 Prozent Schutz). Die Differenz dieser beiden Szenarien ist die Zahl der verhinderten Hospitalisierungen durch die Booster-Impfung.
Anmerkung: Die Taskforce hat den Berechnungsweg nicht vollständig offengelegt. higgs hat die Berechnung lediglich basierend auf Zahlen und Informationen von Taskforce und dem Bundesamt für Gesundheit BAG nachgerechnet. Die Berechnungsmethode der Taskforce kann davon abweichen.
Fazit: Die Rechnung der Taskforce beruht auf vielen statistischen Schätzungen und Vereinfachungen, so dass die Zahlen mit Vorsicht zu geniessen sind. Die Kernaussage ist aber eindeutig: Der Booster rettet Leben und schont die Spitäler. Diese Effekte sind bei den Älteren besonders spürbar.
«Bis Ende Jahr müssen täglich 1 Prozent der Menschen geimpft werden»
Ein Booster nützt nur, wenn er auch wirklich verimpft wird. Darum geht es bei dieser Zahl, deren Berechnung verhältnismässig einfach ist: Bis 30. Juni waren in der Schweiz bereits 3,25 Millionen Menschen vollständig geimpft – sie alle qualifizieren sich sechs Monate später, also bis spätestens Ende des Jahres, für die dritte Dosis. Aber bisher wurden noch nicht sehr viele Booster-Impfungen verabreicht: Ab dem 15. November waren es in einer Woche insgesamt 172 000 Impfungen an über 60-Jährige. Allerdings ist nicht bekannt, wie viele davon Erstimpfungen oder Booster waren. Entsprechende Zahlen veröffentlicht das Bundesamt für Gesundheit BAG bisher nicht separat. higgs schätzt aber, dass bis 23. November erst rund 250 000 Booster verabreicht worden sind. Bleiben also noch drei Millionen Personen, die bis Ende Jahr geboostet werden müssen. Das entspricht knapp 80 000 Dosen täglich – rund einem Prozent der Schweizer Bevölkerung. Zum Vergleich: Am Höhepunkt der Impfkampagne im Juni wurden teils mehr als 100 000 Impfungen täglich verabreicht. Ob die Kantone dies binnen nützlicher Frist noch einmal schaffen, ist angesichts der Diskussionen der vergangenen Tage eher unwahrscheinlich.
Entsprechend liest sich die Aussage der Taskforce, dass bis Ende Jahr täglich ein Prozent der Menschen geimpft werden müssten, mehr als Warnung. Will heissen: Wenn diese Impfwerte nicht erreicht werden, verschlechtert dies die Prognosen für die Spitalkapazitäten, die angesichts der schnell steigenden Infektionszahlen schon bald zum Problem werden dürften.