Benedikt Meyer
Benedikt Meyer ist Historiker und Autor. Mit «Im Flug» hat er die erste wissenschaftliche Geschichte der Schweizer Luftfahrt geschrieben, mit «Nach Ohio» seinen ersten Roman veröffentlicht. Bei higgs erzählt er in der «Zeitreise» jeden Sonntag Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catherine Reponds tragischem Ende und von Henri Dunant bis zu Iris von Roten.
Bevor sie tot waren, waren sie oben. Beim Abstieg vom Matterhorngipfel strauchelte Douglas Hadow in einer eisigen Passage und fiel auf den vor ihm gehenden Michel Croz. Hinter den beiden wurden die am selben Seil gesicherten Reverend Charles Hudson und Lord Francis Douglas mitgerissen. Ungebremst schlitterten die vier Männer über die Felswand. Sie stürzten Tausend Meter in die Tiefe.
Oben am Horn stand Vater Taugwalder schwer atmend in der Wand. Geistesgegenwärtig hatte er das Seil um einen Felsen geschlungen – und damit verhindert, dass er selbst, sein Sohn und Edward Whymper ebenfalls in die Tiefe gerissen wurden. Eine halbe Stunde verharrten die drei geschockt am Berg, nur noch dreihundert Meter Abstieg schafften sie an jenem 14. Juli 1865. In eisiger Kälte verbrachten sie die Nacht.
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Die Besteigung des Matterhorns war Höhepunkt und Ende einer Epoche. Seit rund dreissig Jahren kletterten reiche Engländer von Schweizer Bergführern begleitet auf die Alpengipfel. Ein Unterfangen, das früheren Generationen absurd erschienen wäre: Eis, Kälte und Dämonen wohnten da oben. In Luzern hatte man 1387 sechs Geistliche ins Gefängnis gesteckt, nachdem sie (erfolglos) zum Pilatus-Gipfel aufgebrochen waren.
Erst Ende des 18. und vor allem Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Alpen zu Orten der Sehnsucht – wenigstens für den Adel Europas. Jener hatte Byron, Goethe oder de Saussure gelesen und fuhr mit Postkutschen – und später mit Eisenbahnen – in die Berge, wo mehr und mehr Strassen gebaut und Hotels eröffnet wurden. Und wo Bergler die Fremden für Geld in eisige Höhen brachten. So wie die Taugwalders.
Diese brachen am Morgen um halb vier mit ihrem letzten überlebenden Gast wieder auf und stiegen hinunter nach Zermatt. Dort verbreitete sich die Nachricht von Triumph und Tragödie am Horn rasant. Und bald machten auch erste Gerüchte die Runde: warum dieses schwache Seil? Hatte Taugwalder es durchschnitten? Hatte Whymper ein beim Aufstieg verwendetes, stärkeres Seil zerschnitten um als Erster auf dem Gipfel zu sein? Die Londoner «Times» publizierte in einem Monat über 40 Artikel zur Tragödie, Queen Victoria erwog ein Verbot alpinistischer Expeditionen.
Einzige Gewinnerin des Dramas war Zermatt. Das Bergdorf wurde weltberühmt und entwickelte sich zu einer der wichtigsten Destinationen des immer stärker werdenden alpinen Tourismus. Immer mehr Reiseführer, -berichte und -bücher fachten die Faszination für den Alpenraum an. Eines der einflussreichsten erschien sechs Jahre nach dem Drama. Titel: «The Playground of Europe».
Aufschluss über das Geschehen am Horn könnte das Seil geben, das Douglas mit Taugwalder verband. Aber Taugwalder warf sein Ende des kaputten Seils weg. Das andere Ende liegt bei Douglas’ Leiche. Und die wurde als einzige nie gefunden.
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