Zwei Berichte über das neuartige Coronavirus haben letzte Woche in den Massenmedien für grosse Aufmerksamkeit gesorgt. Ein Meinungsartikel des Immunologen Beda Stadler, ehemals Professor an der Uni Bern, und ein Interview mit dem Infektiologen Pietro Vernazza vom Kantonsspital St. Gallen.

Beide zielen in dieselbe Richtung: «die Gefährlichkeit des Virus wurde überschätzt». Und beide haben für Kontroversen in der Wissenschaft gesorgt. Aber vom Publikum haben beide viel Applaus erhalten.

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Stadler und Vernazza bringen Punkte auf, die es verdienen, diskutiert zu werden – zum Beispiel die Rolle der Kreuzimmunität, die Zuverlässigkeit des Virusnachweises oder die Möglichkeit einer Immunisierung der gesamten Bevölkerung. Diese Fragen werden in der Wissenschaft auch diskutiert.

Aber beide Absender machen auch Aussagen, die sich faktisch nicht stützen lassen: die pauschale Aussage von Beda Stadler zum Beispiel, es werde keine zweite Welle geben. Oder Vernazzas Berechnung der Letalität von Covid-19, die er ziemlich freestyle anstellt, damit seine Hypothese dann aufgeht.

Was mich persönlich an beiden Wortmeldungen aber am meisten irritiert ist, dass die beiden Herren sie nicht in wissenschaftlichen Zeitschriften publizieren, wo sie jede Aussage und jede Herleitung mit exakten Quellenangaben belegen müssten, und ihre Thesen der wissenschaftlichen Diskussion ausgesetzt wären. Nein, sie tun es in den Massenmedien, im Falle Stadlers in der Weltwoche, die aus Prinzip immer eine Gegenposition zur vorherrschenden Meinung vertritt.

Da kommt der Verdacht auf, es gehe nicht um die wissenschaftliche Diskussion, sondern um den Publikumseffekt – um den Applaus, der einem gewiss ist, wenn man den Leuten das sagt, was sie gerne hören wollen. Was bei beiden als Botschaft letztlich hängen bleibt: «Es ist alles nicht so schlimm.»

Diese Botschaft ist verheerend. Weil sie beim Publikum nicht nur Erleichterung verbreitet, sondern auch Zweifel an wissenschaftlichen Befunden und damit auch Nachlässigkeit bei der Vorsorge. Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Pandemie gefährlich.

Sowohl Beda Stadler als auch Pietro Vernazza haben eine extrem enge Weltsicht. Wie kann man behaupten, es werde keine zweite Welle geben, wenn in vielen Ländern der Welt gerade die zweite Welle losgeht? Wie kann man behaupten, im Sommer verschwinde das Virus, wenn im heissen Israel, im Iran und in den südlichen Staaten der USA gerade die Fallzahlen in die Höhe schnellen? Und wie kann man von einer gezielten Durchseuchung träumen, während in Ländern wie Österreich, Frankreich oder Luxemburg die Vorsichtsmassnahmen wieder verschärft werden, weil man sieht, dass sich die Pandemie nach den Lockerungen verselbständigt?

In ihrer engen Sicht haben Stadler und Vernazza zwar recht: Tatsächlich hat es die Schweiz bisher noch recht milde getroffen – wobei zum Beispiel Deutschland pro 100 000 Einwohner deutlich weniger Fälle und Tote zählt.

Aber auch wenn wir insgesamt noch recht geringe Opferzahlen zu beklagen haben, darf das nicht zu Nachlässigkeit oder gar Überheblichkeit führen.

Und schon gar nicht dazu, dass wir die bisherige Corona-Politik der Schweiz grundsätzlich anzweifeln, dass wir über die Einschränkung der Persönlichkeitsrechte durch die Maskenpflicht diskutieren, anstatt darüber, wie viele Opfer wir mit dem Lockdown verhindert haben. Oder dass wir der Regierung pauschal Versagen vorwerfen oder gar ein Komplott.

Achtung, ich sage nicht, man solle Fehler und Versäumnisse nicht aufarbeiten. Gewisse Aussagen des Bundesamts für Gesundheit zu Zuverlässigkeit von Masken oder zur Infektiosität von Kindern waren verwirrend oder sogar falsch. Auch das veraltete Meldesystem, die fehlenden Maskenlager, die mangelnde Vorbereitung, wie sie eigentlich im Epidemiengesetz vorgeschrieben wäre.

Das alles gehört klar diskutiert. Aber angesichts der weltweit steigenden Zahlen wäre es im Moment wichtiger, zu analysieren, warum denn die Schweiz bisher so glimpflich davongekommen ist.

Was machen wir anders – besser – als andere?

Anstatt spekulieren, verurteilen und bagatellisieren sollten wir analysieren. Um aus dieser Analyse könnten zu lernen. Und auch andere könnten von uns lernen, um bei künftigen Ausbrüchen unbekannter Viren noch besser gewappnet zu sein. Denn die nächste Pandemie wird kommen. Und in der aktuellem hat die Schweiz bis jetzt recht gut bestanden.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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