Benedikt Meyer
Benedikt Meyer ist Historiker und Autor. Mit «Im Flug» hat er die erste wissenschaftliche Geschichte der Schweizer Luftfahrt geschrieben, mit «Nach Ohio» seinen ersten Roman veröffentlicht. Bei higgs erzählt er in der «Zeitreise» jeden Sonntag Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catherine Reponds tragischem Ende und von Henri Dunant bis zu Iris von Roten.
Am Ende wechselte sogar Wilhelm Tell die Seiten. Als Schweizerinnen und Schweizer 2002 über den Beitritt zur UNO abstimmten, prangte der Nationalheld von den Plakatwänden und erklärte: «Die Schweiz ist stolz auf ihre Neutralität und sagt darum JA zur UNO». Tell benannte das entscheidende Stichwort beim Verhältnis zwischen der Schweiz und der Welt: die Neutralität.
Dass sich künftige Katastrophen nur mittels internationaler Kooperation verhindern liessen, war bereits nach dem Ersten Weltkrieg überdeutlich geworden. Deshalb diktierten die Siegermächte 1919 in Versailles nicht nur die Friedensbedingungen, sondern legten auch die Basis für ein internationales Forum: den Völkerbund. Die Schweiz war interessiert, aber konnte ein neutrales Land einer Institution der Siegermächte beitreten? «Hütet Euch vor dem Versailler Völkerbund!» warnte der Plakat-Tell die Stimmbürger 1920. Erfolglos.
Die Schweiz wurde Völkerbunds-Gründungsmitglied, die Grossmächte anerkannten die Neutralität und Genf setzte sich im Rennen um den Hauptsitz gegen Brüssel durch. Die Schweiz engagierte sich diplomatisch und humanitär, agierte aber insgesamt zurückhaltend und im Hintergrund. Noch vorsichtiger wurde sie im Zweiten Weltkrieg. Nun wurde die Weltversammlung am Lac Léman als neutralitätspolitisches Risiko eingestuft, als gefährliche Provokation in Richtung Deutschland und Italien.
1946 wurde aus dem Völkerbund die UNO – und der Bundesrat entschied sich, nicht mitzumachen. Er hielt die Mitgliedschaft für nicht vereinbar mit der Neutralität. Und nicht nur er: auch die Veto-Macht Frankreich wollte neutrale Länder zunächst nicht aufnehmen. Also blieb die Schweiz draussen, und das auch als immer mehr Staaten der UNO beitraten – neutrale inklusive. Die Schweiz blieb Beobachterin, unterstützte die UNO an ihrem Sitz in Genf, leistete Gute Dienste, Sondereinsätze, humanitäre Hilfe und arbeitete auch in diversen Unterorganisationen mit.
Warum sich so engagieren, aber nicht beitreten? 1986 befanden die Stimmbürger darüber und votierten zu 76% mit Nein. Manche setzten Neutralität mit Abseitsstehen gleich, andere meinten, dass sich die Sorgen der Welt von der Schweiz fernhielten, solange die Schweiz sich von den Sorgen der Welt fernhielt.
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Drei Jahre später allerdings stand die Welt auf dem Kopf: Das Ende des Ost-West-Konflikts brachte eine neue Zeit und die Frage, wo die Schweiz in der Welt stand, wurde in den 1990er-Jahren zum dominierenden Thema. Zwar trat sie 1992 Weltbank und Währungsfonds bei, den EWR-Beitritt lehnten die Stimmenden im selben Jahr aber ab. Die 90er waren ein schwieriges Jahrzehnt, wirtschaftlich, aber auch politisch.
Sich nicht einzumischen war lange ein Schweizer Erfolgsrezept gewesen, nun wurde klar, dass Abseitsstehen alleine keine Strategie war. Mit Tells Hilfe und 54% Ja-Stimmen votierten Schweizerinnen und Schweizer schliesslich am 3. März 2002 für den Beitritt zur UNO. Als vorletztes Land der Welt.