Herr Niggli, haben Sie als Kinderonkologe einen traurigen Beruf?
Nein. Er macht mir sehr viel Freude. Wir begleiten die Kinder auf einem Lebensabschnitt. Am Anfang haben sie grosse Angst, weinen oft. Dann gewinnen sie Vertrauen. Es ist schön, zu sehen, wie zutraulich die Kinder werden.
Reden Sie mit einem Kind über den Tod?
Nur sehr zurückhaltend, selbst wenn ich erwarte, dass das Kind am Krebs stirbt. Ihm zu sagen, dass es nicht mehr lange lebt, wäre zu brutal.
Und wenn ein Kind direkt fragt, ob es sterben wird?
Dann sage ich: Ja, es ist möglich. Ich versuche immer, die Wahrheit zu sagen.
Haben Sie auch schon am Bett eines sterbenden Kindes geweint?
Ja, schon mehrfach. Wenn ich sehe, dass wir nichts mehr machen können. Wobei die traurige Phase meistens vorher ist. Der Tod zeichnet sich ja ab. Wenn ich den Eltern mitteilen muss, jetzt können wir ihr Kind nicht mehr retten –, das ist sehr emotional.
Weshalb bekommen Kinder überhaupt Krebs?
Bei Kindern entsteht Krebs aus Gewebe, das bei der Geburt noch nicht ganz ausgereift ist. Hier kann es bei der Zellentwicklung Fehlleitungen geben, wodurch Tumore entstehen. Bei Erwachsenen ist dies nicht möglich, weil das Gewebe ausgereift ist. Bei ihnen spielen äussere Faktoren eine grosse Rolle.
Gibt es die nicht auch für Kinder? Solche, die an einer Autobahn leben, sollen ein erhöhtes Krebsrisiko haben.
Das stimmt. Doch ich glaube nicht, dass Autobahnen für Kinderkrebs verantwortlich sind.
Dieselruss aus den Abgasen ist doch krebserregend.
Ja, aber erst nach vielen Jahren, also nicht schon bei Kindern. Der Zusammenhang ist ein anderer: An Autobahnen entstehen oft neue Wohnquartiere. Und wir haben Hinweise, dass in neuen Agglomerationen Leukämie, also Blutkrebs, etwas häufiger ist.
Neue Siedlungen sollen Krebs fördern?
Ja. Bei Bevölkerungsbewegungen werden viele Infektionserreger ausgetauscht. Und wir wissen, dass gewisse Viren, die an sich harmlos sind, gefährlich werden können, wenn sie Kinder treffen, deren Abwehrsystem noch nicht ausgereift ist. Zum Beispiel können die Viren bereits anfällige Blutzellen weiter schädigen – daraus kann eine Leukämie entstehen. Der Grund für die Krebsfälle ist also eigentlich die neu entstandene Agglomeration, nicht die Autobahn.
Umgekehrt soll der Besuch einer Kindertagesstätte das Krebsrisiko senken. Dort gibt es doch auch viele Infektionen?
Es kommt darauf an, in welchem Lebensabschnitt man einem bestimmten Erreger ausgesetzt ist und wie reif in diesem Moment das körpereigene Abwehrsystem schon ist. Natürlich verhindert die Kita eine Leukämie nicht komplett, aber sie senkt das Risiko. Man vermutet, dass der Kontakt unter den Kindern das Abwehrsystem stärkt. Es ist vielfach nachgewiesen, dass Kinder, die zwischen dem sechsten und zwölften Lebensmonat eine Krippe besucht haben, weniger häufig an Krebs erkranken.
Es gibt für Kinderkrebs kaum neue Medikamente. Trotzdem überleben heute viel mehr Patienten als früher. Was hat sich geändert?
Tatsächlich haben wir heute praktisch dieselben Präparate zur Verfügung wie vor 30 Jahren. Aber wir verstehen die Biologie des Krebses besser und wir kombinieren diese verfügbaren Medikamente geschickter. Das macht die Behandlung viel wirksamer.
Die Therapien sind belastend. Den Kindern geht es dabei schlechter als zuvor.
Noch schlechter geht es ihnen, sobald sie das Spital wieder verlassen haben. Dann setzen die Nebenwirkungen ein, und die können gravierend sein.
Das heisst, Sie fügen den Kindern auch Leiden zu. Wie gehen Sie damit um?
Ich weiss, dass es notwendig ist und dass es vorübergeht.
Wie sagen Sie das einem Kind?
Das ist schwierig. Ich sage ihm, in ein paar Tagen wird es besser. Ich versuche Mut zu machen, und wir überbrücken die schlimmste Zeit mit Schmerzmitteln.
Welches Risiko hat ein geheiltes Kind, später wieder an Krebs zu erkranken?
Das ist sehr individuell. Es hängt von der Genetik jedes einzelnen Menschen ab, der Art des Krebses und der Therapie. Nach einer Strahlentherapie beispielsweise ist die Gefahr grösser als nach einer Chemotherapie.
Sagen Sie das den Eltern, wenn sie mit ihrem geheilten Kind das Spital verlassen?
Wir machen sie darauf aufmerksam, aber es ist schwierig. Die Kinder haben gerade eine Erkrankung überstanden, da will ich nicht alles Schlimme sagen. Wir müssen die Balance zwischen unbegründeter Panik und vernünftiger Nachsorge finden. Oft stelle ich auch fest, dass nicht alle, die Krebs überlebt haben, ständig daran erinnert werden wollen. Aber so ist es doch bei uns allen: Wer will wissen, was die Zukunft bringt?
Wie gehen Sie mit Patienten um, die eine bestimmte Behandlung ablehnen?
Schwierig wird es, wenn Kinder mit einer anerkannten Therapie gute Heilungschancen hätten, aber die Eltern eine alternative Methode wie die Homöopathie verlangen. Das geht leider häufig schief. Komplementärmedizin kann ergänzend hilfreich sein, aber sie kann keinen Krebs heilen.
Machen Eltern, die auf solche Methoden setzen, Sie wütend?
Nicht wütend, eher verzweifelt. Weil wir einem Kind nicht helfen dürfen. Natürlich kann ich nicht hundert Prozent Erfolg garantieren, aber die Chancen stehen oft ziemlich gut, und ich würde gerne versuchen, das Kind zu retten.