Das musst du wissen

  • Zwei Drittel der Versuchstiere erleben keine oder nur eine sehr geringe Belastung, etwa bei Versuchen zur Fütterung.
  • Doch besonders für die Erforschung schwerer Krankheiten sind die Tiere einer hohen Belastung ausgesetzt.
  • Bei solchen Versuchen müssen sie aber generell mit Schmerzmitteln behandelt und unter Narkose operiert werden.

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Korrigendum: Im Video (Minute 20:16) sagt Beat Glogger, es werden in der Schweiz jährlich 17 Millionen Tiere geschlachtet. Das ist falsch. Korrekt sind es 76.5 Millionen.

Im Tierschutzgesetz steht: «Niemand darf ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen». Bedeutet das nicht, dass Tierversuche unzulässig sind? Denn die Tiere erleiden ja Schmerzen.
Tatsächlich sagt das Schweizer Tierschutzgesetz, dass Tierversuche im Prinzip verboten sind. Um trotzdem ein Tierversuch durchzuführen, braucht es eine spezielle Bewilligung. Um diese zu bekommen, ist eine sogenannte Güterabwägung nötig. Darin muss man die Belastung des Tiers gegen Nutzen und Erkenntnisgewinn für die Gesellschaft abwägen.

Wie kann man denn den Nutzen für die Gesellschaft messen?
Bei einem Tierversuch, der das Tier keinerlei Belastung aussetzt, ist die Güterabwägung natürlich viel einfacher, als bei einem Tierversuch mit einem hohen Belastungsgrad. Da lässt sich ein Tierversuch nur rechtfertigen, wenn er sehr entscheidendes Grundlagenwissen schafft oder einen grossen Schritt Richtung Anwendung darstellt.

Was ist ein nicht belastender Versuch und was ist ein leicht belastender?
Ein nicht belastender Versuch ist zum Beispiel, wenn man untersuchen möchte, ob die Milchleistung einer Kuh steigt, wenn man ihr irgendwelche Kräuter zum Futter mischt. Das hat für das Tier keinen Nachteil.

Weisse Laborratten.René Ruis

Ratten gehören zu den gängigsten Versuchstieren. Hier sieht man sie mit Michaela Thallmair im Tierlabor der Uni Irchel.

Das wird schon als Tierversuch definiert?
Ja, genau. Das entspricht Schweregrad null. Schweregrad 1 wäre beispielsweise eine Blutentnahme bei der Maus. Das wäre eine leichte Belastung. Und bei Schweregrad 2 und 3 könnte es sich zum Beispiel um eine Operation handeln, die einen Schmerz bewirkt. Dazu schreibt das Gesetz aber eine Schmerzbehandlung vor. Tiere müssen also narkotisiert werden und erhalten danach Schmerzmittel. Leider erfordert die Erforschung von Krankheiten, die unsere Gesellschaft sehr interessieren, häufig auch solch hoch belastende Tierversuche. Rund 90 Prozent der Versuche mit Schweregrad 3 dienen der Erforschung von Krankheiten beim Menschen: Krebs, Alzheimer, Parkinson oder Multipler Sklerose zum Beispiel.

Im Jahr 2019 wurden in der Schweiz 572 069 Tiere für Tierversuche eingesetzt. Wobei da neben Kühen im Futtertest sogar Küken mitgezählt sind, die im Biologieunterricht aus dem Ei schlüpfen.
Das stimmt. Zwei Drittel der Tiere in der Statistik haben keine oder nur eine niedrige Belastung. Viele Versuchstiere sind übrigens sogar Haustiere, denen im Rahmen einer Studie einfach Blut abgenommen wird – und die danach mit dem Besitzer wieder heim gehen.

Gut, diese Tiere sind Teil der Statistik, aber doch eher die Ausnahme. Reden wir über jene, die zur Mehrheit verwendet werden.
Die klassischen Versuchstiere sind Mäuse und Ratten. Sie machten etwa 80 Prozent aller Versuche aus. Das sind die weitaus am häufigsten eingesetzten Labortiere.

Wie stirbt ein Versuchstier, eine Ratte, eine Maus?
Das kommt auf den Versuch an. Sehr häufig werden die Tiere mit CO₂ eingeschläfert. Es ist ganz wichtig, dass man diese Methode richtig anwendet, so dass das Tier zuerst bewusstlos wird und dann erst erstickt.

Oft hört man den Vorwurf, Tiere werden eingesetzt, um Hautcremes zu testen. Da sieht man die Bilder von nackten Häschen, denen irgendwelche Cremes aufgetragen werden. Sterben für die Eitelkeit heisst dann das Stichwort.
Viele Firmen machen ganz viel Geld damit, dass sie sagen, sie verkaufen tierversuchsfreie Kosmetik. Doch für Kosmetik ist seit 1995 in der Schweiz kein einziger Tierversuch mehr bewilligt worden. In der EU sind Tierversuche für Kosmetika sowieso per se verboten.

Ein weiterer Vorwurf: Katzen werden für Tierversuche eingefangen.
Das ist unmöglich. Denn man muss für jedes einzelne Versuchstier nachweisen, woher es kommt. Da hätte man ein grosses Problem, um eine Bewilligung zu erhalten. Aber sowieso will niemand eine Katze von der Strasse in einem Versuch, weil man nichts über deren Herkunft und den Gesundheitsstatus weiss.

Michaela Thallmair im Gespräch mit higgs-Gründer Beat Glogger beim Talk «Wissenschaft persönlich».

Tiere werden gequält, lautet ein weiterer Vorwurf.
Tierquälerei ist im Tierschutzgesetz verboten. Genau deshalb braucht es eine Bewilligung, und wenn man diese nach der Abwägung durch die Tierversuchskommission bekommt, dann bewegt man sich im legalen Rahmen und darf Tierversuche machen. Also ist es keine Tierquälerei.

Gesetzlich mag das stimmen. Aber das Tier kann trotzdem leiden, Schmerzen oder Angst haben.
Also: Bei einem Versuch muss man ausschiessen, dass ein Tier Schmerzen hat, ausser man würde gerade Schmerzforschung machen. Das ist die einzige Ausnahme, die es geben darf. Ansonsten wird ein Tier mit Schmerzmitteln behandelt, genauso wie ein Mensch auch. Denn Schmerz verändert unsere Physiologie enorm – und von einem Tier, das Schmerzen hat, würde man ganz andere Resultate bekommen als von einem Tier, das schmerzfrei ist.

Schockierend sind auch Bilder, auf denen man Katzen und Affen mit offenem Gehirn sieht. Wozu das?
Das Gehirn selber ist ja schmerzfrei, es hat dort keine Schmerzrezeptoren. Aber der Schädel ist schmerzempfindlich. Wenn man bei einer Operation den Schädel öffnen muss, dann braucht man immer eine Narkose und eine Schmerzbehandlung.

Sie sagen, das Tier hat eine Narkose. Es wird aber immer wieder Vorwurf der Vivisektion erhoben – Tiere würden bei lebendigem Leib aufgeschnitten.
Nein. Wie gesagt, das Tier muss zwingend narkotisiert sein. Es braucht eine chirurgische Narkosetiefe.

«Die Schweiz hat eines der weltweit strengsten Tierschutzgesetze. Das heisst, dass man für Tierversuche eben wirklich rechtfertigen muss, warum man diese macht, aber auch zeigen muss, dass es für diese bestimmte Forschungsfrage keine Alternative gibt.»

Bleiben wir bei den offenen Affenschädeln. Das sind Versuche mit Schweregrad 3 – und diese Versuche sind von 2010 bis 2019 von 11 000 auf 18 000 gestiegen, also gut um einen Drittel. Warum?
Ein Grund ist, dass heute bestimmte Krankheiten – neurodegenerative Erkrankungen, Erkrankungen des Immunsystems und des Blutsystems – intensiver erforscht werden, weil es dafür neue Tiermodelle gibt. Zum Beispiel humanisierte Mäuse, wo man das Blutsystem des Menschen sozusagen in eine Maus implantiert. Dazu bestrahlt man diese Tiere und tauscht die Blutstammzellen aus. Das sind Versuche mit Schweregrad 3. Mit diesen Tieren kann man ganz andere Fragestellungen erarbeiten, die vor ein paar Jahren noch nicht erforschbar waren.

Die Tierversuchsverbotsinitiative will ein komplettes Verbot von Tierversuchen in der Schweiz, sowie des Imports von Produkten, die auf Tierversuchen basieren. Die Initiative argumentiert stark ethisch: Wir sollten Tiere nicht gebrauchen, sondern uns um sie kümmern.
Darüber kann man diskutieren. Aber die Schweiz hat eines der weltweit strengsten Tierschutzgesetze. Das heisst, dass man für Tierversuche eben wirklich rechtfertigen muss, warum man diese macht, aber auch zeigen muss, dass es für diese bestimmte Forschungsfrage keine Alternative gibt.

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Aber genau über diese Alternativen streitet man ja. Es gibt Versuche rein im Labor mit Zellkulturen zum Beispiel oder simuliertem Lungengewebe.
Diese in-vitro Versuche sind wichtig – und werden auch gemacht. Aber oftmals wird auch behauptet, sie seien zuverlässiger als Tierversuche. Da fehlen aber die Daten dazu. Wer zeigt, dass diese Laborversuche zuverlässiger sind als ein Tierversuch? Oft werden auch Computersimulationen genannt. Aber da frage ich mich dann schon, wie jemand einer Computersimulation mehr Vertrauen schenken kann, wenn wir noch nicht mal ganz verstehen, wie es im lebendigen Organismus funktioniert.

Wenn man Computersimulationen nicht zuverlässig auf das Tier übertragen kann, wie will man dann Tierversuche auf Menschen übertragen?
Diese Frage der Übertragbarkeit kommt immer wieder auf. Natürlich ist der Organismus der Maus nicht genau gleich wie jener des Menschen. Aber sehr viele grundlegende biologische und physiologische Prozesse sind identisch.

«Wir achten darauf, dass die Belastung wirklich so gering wie möglich ist. Zum Beispiel kann man eine Substanz auf verschiedene Arten verabreichen.»

Wenn es um Alternativen zu Tierversuchen geht, fällt häufig der Begriff 3R. Was genau bedeutet 3R?
Der Begriff steht für replace, reduce, refine. Replace, das heisst Ersetzen: Wenn man die Fragestellung ohne Tierversuch beantworten kann, dann darf man keinen Tierversuch machen. Reduce heisst, so wenig Tiere wie möglich, aber so viele wie nötig zu nutzen. Und refine meint auf Deutsch verfeinern, verbessern. Das ist für die Tiere, die noch im Versuch sind, wahrscheinlich das Wichtigste. Es bedeutet, dass man das Wohlbefinden der Tiere verbessert und deren Belastung verringert.

Sie sind auch 3R-Beauftragte. Wie setzen Sie das um?
Wir achten darauf, dass die Belastung wirklich so gering wie möglich ist. Zum Beispiel kann man eine Substanz auf verschiedene Arten verabreichen. Etwa mittels Spritzen durch den Mund, Zwangsfütterung, oder man kann die Substanz in Wasser oder Milch auflösen. Weil die Forschenden die Literatur im Labortierkundebereich nicht immer so gut kennen wie wir, beraten wir sie bei der Wahl einer möglichst wenig belastenden Methode. So helfen wir, die Belastung der Tiere zu verringern

Wie reden Sie mit radikalen Tierschützern?
Die radikalen Tierschützer reden nicht mit mir. Aber wir haben seit einigen Jahren einen Dialog mit dem Schweizer Tierschutz STS. Unter anderem haben wir zusammen ein Programm aufgezogen, um Tiere, die im Experiment waren, am Ende aber nicht getötet werden müssen, zur Adoption frei zu geben. Das ist ein Projekt, das alle happy macht: Die Forschenden, weil sie die Tiere nicht töten müssen. Uns, weil wir sehen, dass wir Tiere vermitteln können. Und die neuen Besitzer, weil sie das Gefühl haben, sie können ein Tier retten.

Michaela Thallmair

Michaela Thallmair ist Tierschutzbeauftragte Universität Zürich. Sie ist ursprünglich Neurowissenschaftlerin und war auch in der Forschung tätig. Nach einer Weiterbildung in Labortierkunde wurde sie im Jahr 2018 Leiterin der Abteilung Tierwohl und 3R. Das fünfköpfige Team berät Forschende bei der Planung von Tierversuchen, damit diese für die Tiere möglichst wenig belastend ausfallen. Es führt aber auch – angemeldete und unangemeldete – Kontrollen in Versuchstierställen und Laboren durch.

Frau Thallmair, essen Sie Fleisch?
Nein. Ich lebe seit meinem 17. Lebensjahr konsequent fleischlos. Mir hat es nie besonders geschmeckt.

Sie wollen Tiere nicht töten zum Essen, aber für die Forschung schon. Wie gehen sie mit diesem Widerspruch um?
Für mich sind das zwei paar Stiefel. Ich habe ein gutes Leben, auch wenn ich kein Fleisch esse. Wenn ich aber auf Tierversuche verzichte, dann müsste ich konsequenterweise auf sämtliche Medikamente verzichten, auf sämtliche chirurgische Eingriffe, wahrscheinlich dürfte ich auch daheim, mein Spülmittel und meine Teflonpfanne und was weiss ich alles nicht benutzen, weil überall dort mal Tierversuche im Einsatz waren. Also ich glaube, das ist extrem schwierig, das zu tun, wohingegen der Fleischverzicht beim Essen relativ einfach ist.

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«Wissenschaft persönlich» ist ein Live-Event, in dem Gäste aus der Wissenschaft nicht nur über Fakten reden, sondern auch über sich selbst – über ihre Begeisterung, ihre Niederlagen und ihre Träume. Der rund einstündige Talk findet regelmässig statt.
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