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Auf den ersten Blick wirkt das Projekt Aria harmlos: Es ist der neuste Coup von Facebook und dient gemäss eigenen Angaben dazu, eine neue Kartierungstechnologie zu entwickeln. Es schliesst auch der Aspekt der Citizen Science ein. Das heisst Wissenschaft, bei der jede Bürgerin, jeder Bürger mitmachen kann. Demokratisierung der Forschung sozusagen, etwas, das wir an dieser Stelle auch schon gerühmt haben.

Auf den zweiten Blick aber erkennt man die Wucht, mit der der Tech-Gigant immer weiter in unsere Privatsphäre eindringt. Neustens nicht nur, wenn wir online sind, oder unser Handy nutzen, sondern im wahrsten Sinn des Wortes auf Schritt und Tritt.

Das Projekt Aria ist eine Art Google Street View. Nur in Echtzeit und viel detaillierter. Es kommt eine Augmented-Reality-Brille zum Einsatz, die mit einer intelligenten Kamera und Mikrofonen ausgestattet ist. Wer die Brille trägt, kann die Umgebung fotografieren, filmen, akustisch aufnehmen. Die Aufzeichnungen werden an eine Datenbank übermittelt und zu einem gigantischen Virtual-Reality-Modell der ganzen Welt zusammengefügt. Dieses wiederum soll Entwicklern von Augmented-Reality-Anwendungen als Plattform dienen.

Bei AR sieht der Nutzer mit einer geeigneten Spezialbrille oder auf dem Display des Smartphones nicht bloss die Umgebung, sondern über dem realen Bild eingeblendet zusätzliche computergenerierte Informationen. Ein Anwendungsbeispiel stammt von der US-Armee, die ein Fernglas entwickelt hat, das den Soldaten die genauen Standorte und Entfernungen von Personen und Objekten anzeigt, die sie beobachten.

Andere Anwendungen gibt es auch für Servicetechniker, oder in Architektur und Städteplanung. Bereiche also, wo detaillierte Umgebungsmodelle sicher ihren Sinn haben.

Viel eher wird die AR aber wohl für Werbung oder Ähnliches eingesetzt werden. Zum Beispiel bezahlte Information zu Geschäften: Wo kann man was einkaufen, welcher Laden ist gerade offen? So lockt man Kunden in Echtzeit zu Produkten. Und so verdient die Augmented-Reality-Umgebung von Facebook – oder besser gesagt Meta – deutlich mehr Geld als mit Architekturmodellen.

Jetzt warnen zwei britische Forscherinnen vor den massiven Eingriffen in die Privatsphäre, die diese Art von Geräten zur Folge haben werden. Sally Applin vom HRAF Advanced Research Centres und Catherine Flick vom Centre for Computing and Social Responsibility an der De Montfort University haben ihre Bedenken in einem Artikel im Journal of Responsible Technology publiziert.

Eine zerlegte Visualisierung der schwarzen AR-Brille.Meta

So ist die AR-Brille des Project Aria aufgebaut.

Das Problem an Aria: Es filmt uns nicht einfach. Viel mehr beobachtet es unser Handeln und jenes der uns umgebenden Menschen auf Schritt und Tritt. Und dies nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch im privaten. Und es filmt uns, auch wenn wir das nicht möchten. Wir erkennen es nicht einmal: Mikrofon und Kamera an der Aria-Brille sind derart klein, dass man das Gerät praktisch nicht erkennen kann. Ganz anders als einst bei den plumpen Google Glasses. Nein, dank Partnerschaften mit grossen Brillenherstellern soll das Aria-Überwachungstool aussehen wie eine modische Brille vom Optiker.

Google Glass, eine AR-Brille mit Kamera und ohne Gläser liegt auf einem Tisch.Unsplash / Clint Patterson

Die Google Glass war leicht als AR-Brille erkennbar.

Facebook verletzt schon jetzt unsere Privatsphäre – mit Aria geht die Verletzung weiter denn je.

Gemäss den Forscherinnen Applin und Flick steht Facebook kurz davor, mehrere Tausend dieser Augmented-Reality-Brillen einzusetzen. Und sie gehen davon aus, dass andere Unternehmen und Einzelpersonen ihre eigenen Versionen von AR-Brillen entwickeln, um die AR-Plattform von Facebook zu nutzen – oder sie zu konkurrieren.

Zwar sollen die Aufnahmen auf Strassen, Parks, Bahnhöfe und anderen öffentliche Orte beschränkt sein. Es gibt allerdings keinen zuverlässigen Algorithmus, der verhindern kann, dass auch an anderen Orten gefilmt wird: in Zug, Bus und Tram, in Restaurants, Fitnesszentren, Clubs und so weiter.

Zwar wird die Project-Aria-Brille von Facebook als «Forschungsgerät» beschrieben, aber so haben wir uns Citizen Science nicht vorgestellt.
Neben dem Standort des Nutzers werden auch dessen Video-, Audio- und Blickbewegungen aufzeichnet.

Tun sie heute ja schon mit ihrem Handy, könnte man sagen. Aber immerhin erkennt man das. Ich kann mich abwenden, aus dem Bild gehen oder mich gegen die Aufnahme wehren. Mit Aria wird alles komplett inkognito aufgezeichnet. Wesentlich sind dabei auch Metadaten. Wer hält sich wann wo auf, was sind unsere Routinen, wann machen wir was? Aria macht uns noch mehr zu gläsernen Bürgern, als dass wir es ohnehin schon sind.

Zwar hat Facebook sich selbst ethische Grundsätze für verantwortungsvolle Innovation auferlegt. Die Forscherinnen haben untersucht, ob das Unternehmen diese Grundsätze erfüllt, und sie kommen in einer Mitteilung zu dem Schluss: «Dass es eine eklatante Diskrepanz zwischen dem gibt, was Unternehmen behaupten zu tun, und dem, was sie tatsächlich tun.»

Vor allem geht es auch darum, ob es Sache eines Unternehmens ist, die Spielregeln für sein Verhalten im öffentlichen Raum und den Umgang mit unserer Privatsphäre aufzustellen. Oder ob das nicht vielmehr eine öffentliche Aufgabe wäre.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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