In Schweizer Spitälern und Arztpraxen übernehmen Pflegefachpersonen immer mehr Aufgaben. So laufen zurzeit Pilotprojekte, in denen speziell ausgebildete Pflegepersonen Kompetenzen erhalten, die bisher Ärzten vorbehalten waren. Sie untersuchen zum Beispiel eigenständig Patienten, ordnen Analyseverfahren an oder empfehlen die Verschreibung von Medikamenten.
Eine andere Art erweiterter Aufgaben übernehmen auch immer mehr auf Masterstufe ausgebildete Pflegespezialisten – im Fachjargon Pflegeexperten APN genannt. «Sie achten auch auf das psychosoziale Befinden ihrer Patienten und deren Möglichkeiten, mit der Erkrankung umzugehen», sagt Manuela Eicher, Professorin für Pflegeforschung an der Universität Lausanne. Sind die Patienten beispielsweise gut über ihre Krankheit informiert? Benötigen sie und ihr Umfeld mehr Unterstützung, um mit der Krankheit und den Nebenwirkungen einer Behandlung umzugehen? Mit diesem Vorgehen füllen die Pflegeexpertinnen eine Lücke in der Patientenbetreuung.
Patienten mit ihren Ängsten alleingelassen
Dass das individuelle Befinden der Patienten manchmal zu kurz kommt, zeigt sich besonders bei schweren Krankheiten, die ambulant therapiert werden. Bei vielen Krebsarten zum Beispiel. Hier kommen die Patienten zwar für einzelne Therapien in die Klinik, etwa für eine Operation, zur Bestrahlung oder Chemotherapie. Dazwischen aber sind die Betroffenen daheim – und häufig auf sich allein gestellt. So fühlen sich über 40 Prozent der Patienten unzureichend informiert und mit ihren Ängsten alleingelassen. Dies zeigte eine Studie, die Eicher mit ihrem Team 2015 mit rund 70 Schweizer Krebspatienten durchgeführt hat. «Das dürfte in einer qualitativ hochstehenden Gesundheitsversorgung wie in der Schweiz eigentlich nicht vorkommen», so Eicher. Genau hier sollen die Pflegeexpertinnen Abhilfe schaffen.
Angefangen hat diese Entwicklung hierzulande vor gut zehn Jahren, unter anderem mit den sogenannten Breast Care Nurses: Pflegefachpersonen also, die auf die Betreuung von Frauen mit Brustkrebs spezialisiert sind (siehe Interview unten). Dass sie den Therapieerfolg insgesamt verbessern, zeigen Studien aus England und Skandinavien. Dort litten Frauen, die von einer Breast Care Nurse betreut wurden, weniger stark unter Nebenwirkungen ihrer Behandlung als andere Patientinnen.
Pflegeexpertinnen für immer mehr Patienten
Inzwischen gibt es an den meisten der 26 Brustzentren in der Schweiz mindestens eine Breast Care Nurse. Zudem wurden für Patienten mit anderen Krebserkrankungen wie Prostata- oder Lungenkrebs ähnliche Stellen geschaffen, und seit kurzem gibt es am Berner Inselspital eine Pflegeexpertin, die speziell Jugendliche mit Herzfehlern betreut. Allerdings: «In der Schweiz haben die Pflegespezialisten noch deutlich weniger Kompetenzen als in vielen anderen europäischen Ländern», sagt Pflegeforscherin Manuela Eicher. Sie ist deshalb sicher, dass sich deren Rolle auch in der Schweiz noch erheblich ausweiten wird.
Nachgefragt
«Häufig fühlen sich die Patientinnen wie erschlagen»
Monika Biedermann, Sie waren eine der ersten Breast Care Nurses in der Schweiz. Was tun Sie für die Brustkrebs-Patientinnen in der Frauenklinik des Berner Inselspitals?
Ich bin für sie so etwas wie der rote Faden während ihrer Behandlung. Die Patientinnen durchlaufen je nach Brustkrebsart verschiedene Therapien, für die immer wieder andere Ärzte und Pflegende zuständig sind. In diesem komplexen Ablauf bin ich die konstante Ansprechpartnerin, an die sich die Patientinnen mit ihren Fragen, Sorgen und Ängsten wenden können.
Wie oft haben Sie Kontakt mit den Frauen?
Das ist unterschiedlich, je nachdem, was sie brauchen. Es gibt Patientinnen, die ich für eine gewisse Zeit wöchentlich zu einem Gespräch treffe oder mit ihnen telefoniere. Beispielsweise zurzeit eine Frau, die eine Chemotherapie neu angefangen hat und gegen starke Angstgefühle kämpft.
Ist Angst bei vielen Patientinnen ein Problem?
Ja, die Diagnose Krebs ist für alle Patientinnen ein Schock und ein enorm stressiger Moment – das kann grosse Ängste auslösen. Deshalb bin ich dabei, wenn der Arzt die Patientin über die Diagnose und mögliche Therapien informiert. Bei diesen Gesprächen bleiben erfahrungsgemäss längst nicht alle Informationen bei den Frauen hängen. Häufig fühlen sie sich wie erschlagen und merken erst daheim, dass sie nicht alles verstanden haben. Deshalb rufe ich sie nach einigen Tagen an, frage nach, wie es ihnen nun geht und ob sie alles verstanden haben. Auch später bin ich für die Patientinnen da, meist immer dann intensiver, wenn eine Entscheidung über eine bestimmte Therapie ansteht.
Wie können Sie Ihren Patientinnen bei den Entscheidungen helfen?
Ich kann mit ihnen die Vor- und Nachteile der verschiedenen Therapien genau anschauen und besprechen, wie sich die Nachteile in ihrem Alltag auswirken. Beispielsweise die Nebenwirkungen von Bestrahlung und Chemotherapie: Die meisten Frauen haben unbegründet grosse Angst, dass ihnen von der Chemo übel wird. Doch heute haben wir das viel besser im Griff als früher. Ich kann ihnen also einige ihrer Befürchtungen nehmen.
Gehen Ihnen die Geschichten Ihrer Patientinnen nahe?
Ja, sie berühren mich schon. Es gehört schliesslich zu meiner Aufgabe, eine Beziehung zu den Frauen aufzubauen. Dabei gibt es auch sehr schöne Momente. Etwa, als mich eine ehemalige Patientin, die zum Zeitpunkt der Diagnose im dritten Monat schwanger war, mit ihrem gesunden Neugeborenen besuchen kam. Das ging mir sehr nahe.
Und die traurigen Schicksale – wenn es jemand nicht schafft?
Natürlich, auch die gehen nicht spurlos an mir vorbei. Das muss aber nicht unbedingt ein schlechtes Gefühl sein. Ich denke an eine Patientin von mir, die vor einiger Zeit die Behandlung abgebrochen hat. Bei ihr half jahrelang keine Therapie, und schliesslich meinte sie: Jetzt ist genug. Obwohl sie nicht mehr in Behandlung ist, telefonieren wir immer noch alle zwei bis drei Wochen oder schreiben uns per E-Mail. Ihr Alltag wird zwar immer schwieriger, doch sie ist trotzdem noch sehr aktiv und macht das Beste aus der Zeit, die ihr bleibt. Für mich ist sie deshalb ein Vorbild. Auch ich wünsche mir, einmal auf diese Weise mit meinem Tod umgehen zu können.