Das musst du wissen

  • In der Antike soll ein Ein-Geschlecht-Modell besagt haben, die Frau sei die unvollkommene Version eines Menschen.
  • Ca. ab dem 18. Jahrhundert habe sich ein differenzierendes Zwei-Geschlechter-Modell durchgesetzt, so Historiker Laqueur.
  • Ab den 50er-Jahren kam dann die Trennung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht hinzu.

«Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus». So der Titel des berühmten Selbsthilferatgebers der Autorin Cris Evatt aus dem Jahr 1994. Für uns scheint es heute selbstverständlich, dass kategorisch zwischen «Mann» und «Frau» unterschieden wird. Die wenigsten wissen jedoch, dass es früher scheinbar auch ein «Ein-Geschlecht-Modell» gab. Das behauptet zumindest der Historiker Thomas Laqueur.
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Laqueur, innerhalb der Forschung nicht unumstritten, stellte diese These 1992 in seinem Buch «Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud» auf und berief sich dabei mehrheitlich auf Schriften des griechischen Arztes Galenos, der im 2. Jahrhundert nach Christus vor allem in Rom tätig war. Nach dem Ein-Geschlecht-Modell gehören Frauen und Männer beide einem Geschlecht an: dem Menschen. Das macht Laqueur an der Beobachtung fest, dass die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane komplementär angesehen wurden. Sie befänden sich lediglich an unterschiedlichen Orten.

Zwei-Geschlechter-Modell ab dem 18. Jahrhundert

Mit einer fortschrittlichen Gleichstellung der Geschlechter hatte das aber nichts zu tun. Nach dem Ein-Geschlecht-Modell ist die Frau die unvollkommene Version eines Menschen. Das weibliche Genital sei beispielsweise lediglich nach innen gestülpt und befinde sich im Vergleich zum männlichen in einem defizitären Entwicklungsstand. Laqueur resümiert, dass es im Ein-Geschlecht-Modell nicht um anatomische, sondern um soziale Unterschiede ging: «Ein Mann oder eine Frau zu sein bedeutete einen sozialen Rang, einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, eine kulturelle Rolle zu übernehmen und nicht organisch das eine oder das andere von zwei inkommensurablen Geschlechtern zu sein.» Die jeweilige gesellschaftliche Rolle und die daraus resultierenden Geschlechterunterschiede wurden folglich durch die mangelnde Perfektion der Frau erklärt.

Das Ein-Geschlecht-Modell wurde laut Laqueur nur langsam von einer neuen Vorstellung verdrängt: Ungefähr ab dem 18. Jahrhundert entschieden nicht mehr soziale, sondern physische und physiologische Unterschiede über das Geschlecht eines Menschen. Frauen und Männer galten fortan als zwei völlig verschiedene Wesen, ein differenzierendes Zwei-Geschlechter-Modell war geboren. Gleichzeitig wurden beiden spezifische Charaktereigenschaften zugeschrieben, die «in ihrer Natur» liegen sollen – Geschlechterstereotypen, die sich teilweise bis heute halten. Unter diesem Blickwinkel sind die unterschiedlichen Rollen, die Frauen und Männer politisch, wirtschaftlich und kulturell einnehmen, biologisch vorgegeben und demnach unabänderlich.

Das Ein-Geschlecht-Modell und der Wandel hin zum Zwei-Geschlechter-Modell sind jedoch kritisiert worden und gelten heute als zu stark vereinfachend. Zum Beispiel wurde nachgewiesen, dass antike Geschlechtermodelle überaus vielgestaltig waren. Es gab bereits in der Antike zum Teil binäre Vorstellungen von Geschlecht und gleichzeitig dominierte bis ins 19. Jahrhundert die Vorstellung von sich entsprechenden Geschlechtsteilen, die eigentlich als Grundlage für das Ein-Geschlecht-Modell gelten. Ein vorgeschlechtliches Zeitalter und eine chronologisch klar abgrenzbare Entwicklung zum Zwei-Geschlechter-Modell hat es also wohl nicht gegeben. Trotzdem bietet Laqueurs Arbeit einen spannenden Einblick in antike Vorstellungen von Geschlecht und ermöglichte es, die «naturgegebene» Einteilung in zwei Geschlechter kritisch zu hinterfragen.

Sex und Gender

Dass die strikte Zweiteilung der Geschlechter nicht in Stein gemeisselt ist, haben schon vor Laqueur verschiedene Denker und Denkerinnen aufzuzeigen versucht. Einen wichtigen Beitrag leistete beispielsweise die Feministin Simone de Beauvoir, die schon 1949 sagte: «Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es». Einige Jahre später waren es dann der Sexualwissenschaftler und Psychologe John Money sowie die Feministin Gayle S. Rubin, die diesen Überlegungen einen Namen gaben. Money mit den Begriffen gender role (was man gegen aussen zeigt) und gender identity (wie man sich wahrnimmt). Rubin mit dem sex-gender-system, in dem sie erstmals zwischen biologischem sex und sozial konstruiertem gender unterscheidet. Diese Unterscheidung ist heute einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Es gab und gibt jedoch Stimmen, denen diese Lösung, wie so oft, wenn es um Unterschiede zwischen Frauen und Männer geht, zu einfach ist.

So verwies die Queer-Theorie bereits Ende der 1980er-Jahre auf die Fälle von Intersexualität (früher Hermaphroditen genannt), bei denen das biologische Geschlecht bspw. aufgrund von chromosomalen oder anatomischen Variationen nicht eindeutig bestimmbar ist. Intersexuelle stehen zwischen den Geschlechtern, weil ihre geschlechtsbestimmenden Merkmale (Gene, Hormone, Keimdrüsen, äussere Geschlechtsorgane) nicht alle dem gleichen Geschlecht entsprechen. Zum Beispiel die XY-Frau, die eigentlich das «männliche» XY-Chromosom besitzt, aber ihrem Erscheinungsbild nach weiblich wirkt. Oder der umgekehrte Fall eines XX-Mannes, der nach aussen männlich erscheint, aber über kein Y-Chromosom verfügt.

Für die Queer-Theorie sind sowohl sex als auch gender gesellschaftlich erzeugte Kategorien. So beruht nach Candace West und Don H. Zimmermanns Arbeit von 1987 das Geschlecht (sex) zwar auf biologischen Kriterien, diese wurden aber von der Gesellschaft als geschlechtsbestimmend auserwählt. Es sind gesellschaftlich geprägte Interpretationen, die bestimmte Merkmale des Körpers zur Geschlechterunterscheidung heranziehen. Das soziale Geschlecht (gender) sei ausserdem keine Eigenschaft, sondern etwas, das in einem fortlaufenden Herstellungsprozess, der durch jede unserer Handlungen vollzogen wird, entstehe (Doing Gender).

Der gleichen Ansicht war auch die Philosophin Judith Butler in ihrer Untersuchung Gender Trouble. Für Butler macht die Unterscheidung zwischen sozialem und biologischem Geschlecht keinen Sinn. Das biologische Geschlecht sei keine objektive Wirklichkeit, sondern durch wissenschaftliche Diskurse produziert, die politischen und gesellschaftlichen Interessen unterliegen. Was wir als Mann oder Frau wahrnehmen, ist vom Diskurs in Biologie, Medizin, Philosophie und anderen Wissenschaften beeinflusst, der immer wieder zum Schluss gekommen ist, dass es zwei körperlich unterscheidbare Geschlechter gibt. Dass zum Beispiel jemand mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen als Frau kategorisiert wird, sei demnach nicht natürlich vorgegeben, sondern über Diskurse konventionalisiert. Das «biologische» Geschlecht sei deshalb genauso kulturell hervorgebracht wie andere Formen der Geschlechtsidentität. Einen «natürlichen» Körper, der sich vom «Geist» unterscheide, gebe es schlichtweg nicht. Dieser sei immer das Resultat einer gesellschaftlichen Konstruktion, das Produkt kultureller Markierungen. Das biologische und das soziale Geschlecht seien also schon immer eins gewesen: Gender. Dieses Gender versteht Butler als etwas Performatives, also als etwas, das entsteht, indem man es tut. Männlich oder weiblich werde man, indem man permanent gewisse kulturelle Praktiken wiederhole.

Auch das biologische Geschlecht ist relativ

Auch aktuelle Arbeiten stossen ins gleiche Horn. Der Sozialwissenschaftler und Biologe Heinz-Jürgen Voss stellt zum Beispiel provozierend fest: «Biologisches Geschlecht ist ein Produkt von Gesellschaft!». Für ihn ist die gegenwärtige Geschlechter-Bestimmung mittels Chromosomen, Hormonen, Keimdrüsen und Genitalien lediglich eine Momentaufnahme. Die Merkmale, die jetzt noch über das Geschlecht entscheiden, werden gesellschaftlich bestimmt und könnten sich schon morgen verändern. Er begründet dies mit einem historischen Rückblick auf biologisch-medizinische Theorien. In diesen zeige sich, dass Merkmale, die als kennzeichnend für Geschlecht betrachtet wurden, sich mit der Entwicklung von Wissenschaft und Gesellschaft und den zur Verfügung stehenden Instrumenten veränderten. So wurden zum Beispiel bei der Geschlechterbestimmung von Intersexuellen je nach historischem Kontext unterschiedliche Merkmale herangezogen und gewichtet. Ebenso war die Geschlechtsbestimmung über Chromosomen erst dann relevant, als es technisch überhaupt möglich war, Chromosomen zu bestimmen.

So eindeutig ist die Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht und sozialem Geschlecht also nicht unbedingt. Selbst das scheinbar klar definierte biologische Geschlecht ist nicht frei von kulturellen Einflüssen und vielleicht genauso sozial konstruiert wie das Gender.

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Geschlecht, Geschlechtsrollenverhalten und gesellschaftliche Entwicklung» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von reatch.

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