Kürzlich haben Doris Leuthard und Johann Schneider-Ammann ihren Rücktritt aus dem Bundesrat angekündigt. Beide scheiden per Ende 2018 aus der Landesregierung. Dies ist ein übliches Szenario, denn im Durchschnitt traten in den letzten hundert Jahren nur drei von zehn Bundesräten per Ende einer Legislatur zurück. Im Bundesrat gilt damit eine sehr spezielle Rücktrittskultur, denn im nationalen Parlament oder in den direkt vom Volk gewählten kantonalen Regierungen sind Rücktritte per Ende einer Legislatur die Regel.

Faktisch keine Regierungswahl

Die Bundesräte werden in der Schweiz für die Dauer von vier Jahren vom Parlament gewählt und können während ihrer Amtsdauer nicht abgewählt werden. In der Praxis sind die Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats durch das Parlament aber keine richtigen Wahlen. Regierungsmitglieder werden ritualisiert bestätigt und am interessantesten ist allenfalls, wie hoch die Stimmenzahl der einzelnen Mitglieder ist. Seit 1919 wurden mit Ausnahme von Ruth Metzler 2003 und Christoph Blocher 2007 sämtliche Bundesräte, die erneut kandidierten, im ersten Wahlgang mit durchschnittlich über siebzig Prozent der Stimmen wiedergewählt. Das bedeutet, dass das Parlament die personelle Zusammensetzung der Regierung nur dann beeinflusst, wenn es eine Vakanz gibt.

Begünstigt wird diese Situation durch das Wahlsystem. Die Mitglieder des Bundesrates werden nicht gemeinsam, sondern einzeln und nacheinander gewählt, was einen enorm stabilisierenden Effekt hat: Die Parteien haben einen hohen Anreiz, die Mitglieder anderer Parteien zu wählen, weil sie sonst Retourkutschen befürchten müssten, insbesondere falls ihre eigenen Bundesräte zu den letzten gehören, deren Wahl ansteht. Und wer seine Schäfchen bereits im Trocknen hat, hat keinen Anreiz mehr, Bundesratsmitglieder anderer Parteien zu desavouieren.

Seit 1919 sind nur gerade 21 von 71 Bundesräten, also 30 Prozent, per Ende eines Mandates zurückgetreten. Viel häufiger gehen sie während der Legislatur. DeFacto

Seit 1919 sind nur gerade 21 von 71 Bundesräten, also 30 Prozent, per Ende eines Mandates zurückgetreten. Viel häufiger gehen sie während der Legislatur.

Dass die Bundesversammlung darum ihr Wahlrecht bei Gesamterneuerungswahlen faktisch nicht ausübt, führt dazu, dass die Mitglieder des Bundesrates weitgehend autonom sind, darüber zu entscheiden, wann sie zurücktreten.

Parteipolitisches Kalkül

Den Parteien kommen Rücktritte während einer Legislatur in der Regel entgegen, denn Rücktrittserklärungen führen dazu, dass die zur Wahl vorgeschlagenen Personen und ihre Partei über viele Wochen oder gar Monate im Rampenlicht stehen. Bundesratswahlen generieren in den Medien eine sehr hohe Aufmerksamkeit, die Parteien zunehmend auch gezielt zu nutzen versuchen. So geschehen beispielsweise nach dem Rücktritt von Didier Burkhalter Ende Oktober 2017. Die FDP präsentierte ihre Kandidierenden im Vorfeld in einer Roadshow im ganzen Land – obwohl das Volk bei der Wahl von Bundesräten gar nichts zu sagen hat.

Gründe für den Rücktritt aus dem Bundesrat

In den meisten Fällen erfolgte ein Rücktritt aus persönlichen oder aber politischen Überlegungen. Faktoren, die gehäuft zu einem Rücktritt führen, können das abgeschlossene Jahr im Bundespräsidium sein oder wenn ein wichtiges Geschäft aus dem eigenen Departement Erfolg hatte, sei es im Parlament oder bei einer Volksabstimmung. Dass Doris Leuthard die No-Billag Abstimmung abwartete, bevor sie ihren Rücktritt erklärte, ist kaum Zufall. Ein Einzelabgang ermöglicht zudem nochmals eine umfassende Würdigung der geleisteten Arbeit in der Öffentlichkeit – schliesslich wird man als Bundesrat nie mehr gelobt als bevor man kommt oder wenn man geht.

In Einzelfällen erfolgen Rücktritte aus gesundheitlichen Gründen, beispielsweise der CVP-Bundesrat Alphonse Egli, der sein Amt 1986 nach nur vier Jahren im Bundesrat zurückgab. Auch der FDP-Bundesrat Rudolf Friedrich oder der der SP-Bundesrat René Felber traten aus gesundheitlichen Gründen zurück, 1984, respektive 1993. Im Falle von Jean Bourgknecht 1962 mussten gar seine Angehörigen den Rücktritt erklären, weil er nach einem Schlaganfall weder sprechen noch schreiben konnte.

In anderen Fällen erfolgt der Rücktritt aus politischem Druck. Elisabeth Kopp, FDP-Mitglied und erste Frau im Bundesrat, trat 1989 zurück, nachdem ihr Amtsgeheimisverletzung vorgeworfen worden war. Auch beim Rücktritt von Samuel Schmid spielte der politische Druck aus den Reihen der SVP eine Rolle. Er war ursprünglich als nicht offizieller SVP-Bundesrat ins Amt gewählt worden. Nach der Nicht-Wiederwahl von Christoph Blocher trat er 2008 aus der SVP aus und der neu gegründeten BDP bei und stand danach unter ständiger Kritik seiner ehemaligen Partei. Diverse Vorfälle im Verteidigungsdepartement setzten ihm politisch zu und dürften beim Rücktritt eine Rolle gespielt haben.

In manchen Fällen hilft der Rücktritt des eigenen Bundesrats einer Partei, sich kurz vor den eidgenössischen Wahlen in ein gutes Licht zu rücken. So trat beispielsweise der Sozialdemokrat Otto Stich per Ende Oktober 1995 zurück. Die Ergänzungswahl erfolgte in der Herbstsession ein paar Wochen vor den eidgenössischen Wahlen und führte dazu, dass die SP viel Medienpräsenz hatte.

Der Doppelrücktritt der CVP-Bundesräte Arnold Koller und Flavio Cotti 1999 nur gerade sechs Monate vor den eidgenössischen Wahlen half der eigenen Partei zentral dabei, ihre beiden Bundesratssitze vorerst zu sichern. Die CVP befürchtete zu Recht, bei den im gleichen Jahr anstehenden Parlamentswahlen von der SVP als drittstärkste Partei abgelöst zu werden. Um zu verhindern, dass einer der CVP-Sitze im Bundesrat massiv unter Druck kommt, erfolgten die Rücktritte der beiden Magistraten darum koordiniert noch vor den eidgenössischen Wahlen. Ohne dieses Manöver wäre es für die CVP wohl schwierig gewesen, ihre zwei Bundesratssitze zu halten. Vier Jahre später ging dann allerdings ein CVP-Sitz verloren, als Christoph Blocher anstelle von Ruth Metzler in den Bundesrat gewählt wurde.

Weniger Strategie, mehr echte Wahlen bei Rücktritten am Ende der Legislatur?

Rücktritte während der Legislatur sind für die Parteien also berechenbarer und übersichtlicher. Im Zuge von anstehenden Bundesratswahlen werden jeweils viele verschiedene Kriterien wie Herkunftsregion, Sprache, Geschlecht sowie politische Ausrichtung der Kandidierenden diskutiert. Eine Einzelvakanz schränkt diesen Katalog ein und vereinfacht es den Parteispitzen, den Prozess zu steuern. Darum wirken Einzelrücktritte stabilisierend auf das politische System der Schweiz.

Zwischen den Parteien zeigen sich erhebliche Unterschiede in Bezug auf den Zeitpunkt des Rücktritts. Bei der FDP und der CVP erfolgten seit 1919 vier von fünf Rücktritten während der Legislatur. Bei der SP und der SVP war es nur jeder zweite.DeFacto

Zwischen den Parteien zeigen sich erhebliche Unterschiede in Bezug auf den Zeitpunkt des Rücktritts. Bei der FDP und der CVP erfolgten seit 1919 vier von fünf Rücktritten während der Legislatur. Bei der SP und der SVP war es nur jeder zweite.

Diese sehr hohe Stabilität in der Regierung sowohl personell als auch in der parteipolitischen Zusammensetzung ist zweifelsohne eine grosse Stärke des schweizerischen politischen Systems und ein Garant für politische Kontinuität. Dennoch: Auch wenn Rücktritte während der Legislatur sowohl individuell wie aus Sicht der Parteien nachvollziehbar sind, wäre eine Änderung dieser Gewohnheit wünschenswert. Denn würden am Ende einer Legislatur mehrere Vakanzen anstehen, wäre eine breitere Diskussion über die künftige Zusammensetzung der Regierung möglich, falls sich die Parteienlandschaft nach einer Wahl verändert hat. Und auch das Kandidierendenfeld würde dadurch erheblich vergrössert. Damit würden die Gesamterneuerungswahlen auch zu mehr als einem blossen Ritual, sondern stattdessen zu echten Regierungswahlen, was die öffentliche Debatte auch im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen beleben würde und mobilisierend wirken könnte.

Auch die Zauberformel wäre wohl nie eingeführt worden, wären 1959 nicht gleich vier Bundesräte zeitgleich zurückgetreten.

Dieser grössere Spielraum über die personelle Zusammensetzung und damit das Kandidatenfeld bei mehreren Vakanzen würde die Parteien dazu zwingen, sich im Vorfeld untereinander zu koordinieren – wie das in anderen Ländern, in denen viele Parteien an der Regierung beteiligt sind, durchaus üblich ist. In der Schweiz war das erst einmal der Fall: Als es 1959 per Ende der Legislatur im Bundesrat gleich vier Vakanzen gab, ermöglichten politische und strategische Absprachen die Einführung der Zauberformel und damit das Prinzip, dass alle grossen Parteien gemäss ihrer Stärke im Bundesrat vertreten sein sollten. Ohne gleichzeitige Rücktritte wäre dieser historische Schritt wohl nicht möglich gewesen. Direkt nach der Einführung der Zauberformel waren übrigens Rücktritte per Ende einer Legislatur besonders selten: Zwischen 1960 und 1979 traten nur gerade zwei von dreizehn Bundesräten per Ende einer Amtszeit zurück – ein Indiz dafür, dass die Parteien die damals neue Zusammensetzung des Bundesrates unbedingt stabil halten wollten.

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