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Sagt China Lockdown, dann meint China Lockdown. Die Menschen sind eingesperrt in ihren Wohnungen, oder weggesperrt in Quarantänezentren. Kein Vergleich zu dem, was viele Leute in der Schweiz schon als unzumutbare Freiheitsberaubung empfanden: ein paar Wochen geschlossene Geschäfte, einige Monate Home-Office und Maskenpflicht an neuralgischen Orten wie Konzertlokalen, Fitnesszentren und öffentlichen Verkehrsmitteln.

Lockdown made in China sieht ganz anders aus: Er gilt in Schanghai für die meisten der 26 Millionen Einwohner seit Ende März. Das bedeutet neben wochenlangem Eingesperrtsein auch, dass infizierte Personen konsequent in sogenannte Quarantänezentren überführt werden. Wir sehen Bilder von Kindern, die von ihren infizierten Eltern getrennt wurden, und jetzt zu Hunderten zusammengepfercht isoliert sind.

Dies hat drastische Folgen für Isolierte, Eingesperrte und Weggesperrte: katastrophale hygienische Zustände, Hunger, Verzweiflung. Zu hunderten stehen Menschen abends auf den Balkonen – nicht etwa wie bei uns, um dem Gesundheitspersonal zu applaudieren, sondern um sich den Lockdown-Frust von der Seele zu schreien. Und wir sehen Videos, in denen Sicherheitskräfte in Schutzanzügen infizierte Menschen abtransportieren (hier, hier oder hier). Szenen wie im schlimmsten Scienc-Fiction-Film.

Wikipedia / 中国新闻网 (China News Service)

Infizierte Personen werden konsequent in sogenannte Quarantänezentren überführt. (Hier sieht man einen Ausschnitt aus der Nachrichtensendung von CNS, welches die zweitgrösste chinesische staatliche Nachrichtenagentur ist, die sich vor allem an Auslandschinesen richtet.)

Ein Video hat mich besonders verstört. Unterlegt mit eingängiger Popmusik sieht man Menschen, die sich an Balkonen und Treppengeländern erhängt haben. Solche, die mit zerschmettertem Körper auf der Strasse liegen. Oder noch schlimmer: man sieht live, wie sich die Verzweifelten von Dächern und Balkonen in den in den Tod stürzen.

So weit so ungut.

Doch wie verlässlich ist diese Information? Sie erreicht uns über die sozialen Medien, vor allem via Twitter. Ein Faktencheck hinter der «Great Firewall» von China ist oft kaum möglich.

Gleichzeitig erreichen uns auch die offiziellen chinesischen Nachrichten: Bis vor kurzem wurde gemeldet, die Zero-Covid-Strategie der Regierung sei ein Erfolg.  Es gab keinen einzigen Todesfall. Dass das – angesichts von täglich 18901 Infektionen in Schanghai (Stand 19. April: 16407 asymptomatisch plus 2494 symptomatisch) nicht stimmen kann, ist eigentlich schon lange klar. Und so hat sich die chinesische Regierung an Ostern tatsächlich durchgerungen, Todesfälle einzugestehen: drei Tote nach drei Wochen Lockdown.

Man muss nichts von Epidemiologie verstehen, um zu erkennen, dass diese Zahl angesichts der Infektionen vollkommen unrealistisch ist. Es sei denn, es handelte sich um eine völlig harmlose Virenmutation. Aber diese hätte in der wissenschaftlichen Literatur längst Schlagzeilen gemacht.

Mindestens im Fall der offiziellen Nachricht ist also sonnenklar, dass sie falsch ist. Doch was machen unsere Medien? Die Nachrichtenagenturen Deutschlands und der Schweiz, dpa und sda, verbreiten die falsche Zahl unkommentiert. Viele Medien übernehmen sie (Blick, Nau, SRF, Watson, Zentralplus,).

Das ist ein Problem.

Es ist keine Information, sondern Propaganda. Pflicht der Medien ist es, Quellen zu prüfen, einzuordnen – und wenn man sie nicht prüfen kann, dies auch so zu sagen. Dies ist besonders wichtig bei Meldungen von nicht demokratischen oder autokratischen Regimes – das sehen wir ganz aktuell auch beim Ukraine-Krieg.

Es sei hier wiederholt: Auch bei den Social-Media-Videos wissen wir nicht genau, was sie wirklich zeigen, woher sie kommen. Beide Arten von Propaganda sind gefährlich, denn sie wird von irgendwelchen Parteien entsprechend der eigenen politischen Agenda – verschwörerisch oder nicht – interpretiert.

  • Bloss drei Tote, bei so vielen Infizierten? Das zeigt, dass Covid-19 nicht gefährlich ist.
  • Nur drei Tote bei einer Bevölkerung von 26 Millionen? Das zeigt, wie wirksam Lockdowns sind.
  • Trotz härtestem Lockdown täglich fast 20 000 Infektionen? Das zeigt, dass Lockdowns nichts nützen.
  • Verzweiflung und Suizide? Das zeigt, wie schädlich Lockdowns sind.

Dann spielt sogar die Frage der Impfung mit rein:

  • Trotz enorm hoher Impfrate in China sind solche Lockdowns nötig? Das zeigt, dass Impfen nichts nützt. Oder vielleicht, dass der chinesische Impfstoff tatsächlich schlechter ist?

Alles zusammen zeigt im besten Fall, dass eine Zero-Covid-Strategie nicht möglich ist. Aber das kann die chinesische Regierung natürlich nicht zugeben. Weil Scheitern für sie keine Option ist. Umso mehr ist es Aufgabe der unabhängigen Medien, Quellen zu prüfen und einzuordnen.

Zwei sehr gute Beispiele hierfür sind mir aufgefallen. Und zwar die Art und Weise, wie die deutsche Plattform Correctiv oder der Tagesanzeiger die Informationsflut aus dem Ukraine-Krieg zu bewältigen versucht.

Im Ukraine-Blog geht die Tagesanzeiger-Redaktion Meldungen vor allem aus den sozialen Medien nach und prüft sie auf deren Wahrheitsgehalt.

So zum Beispiel auch die Frage, ob der kaputte Panzer, der aussieht wie ein Totenkopf, echt oder eine Inszenierung ist. Ich verrate es hier nicht. Aber ich betone: Das macht guten Journalismus aus und nicht das unreflektierte Weiterverbreiten von Propaganda. Kommt sie von Twitter oder vom Staat.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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