Das musst du wissen

  • Seit das neue Coronavirus im November 2019 ausbrach, sind bereits über 1600 Studien registriert worden.
  • Vermehrt werden sie vor einer Peer-Review, also vor Begutachtung durch Experten, auf Pre-Print-Servern veröffentlicht.
  • Aber selbst die Peer-Review bei Journalen beschleunigt sich.

Forschung ging noch nie so schnell: Die ersten Covid-19-Fälle gab es im November 2019. Innerhalb von wenigen Wochen war der Erreger identifiziert, die Diagnostik entwickelt, experimentelle Modelle verfügbar. Anfang April waren bereits 115 Impfstoff-Kandidaten im Fokus von Forschenden. Und Mitte April waren bereits über 1 600 Covid-19-Studien registriert.

Diese Beschleunigung bringt auch Probleme mit sich. Die Ethikprofessoren Alex John London und Jonathan Kimmelman warnen in einem aktuellen Beitrag in der Fachzeitschrift Science vor einem Qualitätsverlust in der Forschung. Sie raten dringend davon ab, kleine Studien ohne Kontrollgruppen durchzuführen oder Medikamente einzusetzen, bevor ihre Wirksamkeit erwiesen sei.

Bereits Anfang April warnte London in einem Interview davor, die ethischen und methodischen Ansprüche zu senken. Er schöpft dabei aus den Lehren, die er aus der Ebola-Forschung während des Ausbruchs der Krankheit in Westafrika 2014 bis 2015 zog. Klinische Studien seien damals zu spät gestartet worden und hatten gravierende Mängel im Design. Ähnliches beobachte er nun in der Covid-19-Krise. Besonders gefährlich werde dies nun aber, wenn es um Impfungen gehe. Denn: diese würden hunderten Millionen Menschen verabreicht.

Wer alles in Ruhe tut, kommt zu spät

Schreitet die Forschung also zu rasch fort? «Natürlich leidet die Qualität von Wissenschaft bei Zeitdruck. Aber die Gesellschaft erwartet Antworten in Zeiten der Krise», sagt Thomas Hartung, Professor an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health, gegenüber dem Science Media Center. «Wir als Wissenschaftler können nicht Milliarden an Steuergeldern kassieren und uns dann in einer Krise in unseren Elfenbeinturm zurückziehen», fügt er an. «Alles in Ruhe tun, kommt sicher zu spät. Das erinnert an den Medizinerwitz: Der Pathologe weiss alles, aber zu spät.» Kompromisse seien nötig, unseriöse Forschung werde, wenn nicht im Peer-Review-Verfahren, dann durch die öffentliche, gegenseitige Kontrolle durch Wissenschaftler mit der Zeit automatisch aussortiert.

Denn: Die verzweifelte Suche nach neuen Erkenntnissen in der Pandemie hat dazu geführt, dass Studien immer öfter ohne Peer-Review, also ohne die seriöse Begutachtung mehrerer Experten, auf sogenannten Pre-Print-Servern veröffentlicht werden. Solche Studien gleichen oft eher einem Entwurf als einem definitiven Studienresultat. Die Autoren des Science-Artikels kritisieren, dies führe zu einem «Outsourcing» der Peer-Review an Journalisten und Ärztinnen. «Preprints und Datenbanken sind in Krisenzeiten wichtig, um den Informationsaustausch zu beschleunigen», sagt Bernd Pulverer, Chefredaktor der Fachzeitschrift The EMBO Journal, gegenüber dem Science Media Center. «Aber auch das Risiko der Fehlinterpretation, besonders seitens der Öffentlichkeit, ist viel höher», ergänzt er. Schnellentscheide auf Grund von kleinen, mangelhaften Studien sind bereits geschehen: Der notfallmässigen Einsatz von Hydroxychloroquin als Medikament gegen Covid-19 wurde Anfang April von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA bewilligt, nachdem der amerikanische Präsident Trump das Malaria-Medikament als «Geschenk Gottes» bezeichnet hatte – obwohl deren Wirksamkeit noch nicht genügend belegt war. Eine neue, ebenfalls noch nicht abgesicherte Studie kam nun zum Resultat, dass das Medikament vielleicht sogar schaden könnte.

Peer-Review fällt unter den Tisch

Studienergebnisse werden aber nicht nur auf Pre-Print-Servern schneller der Öffentlichkeit zugänglich gemacht als sonst. Auch bei den Journalen geht nun alles rassig. «Covid-19 hat einen enormen Ansturm bei wissenschaftlichen Journalen hervorgerufen», sagt Chefredaktor Bernd Pulverer. So braucht die Peer-Review bei Medizinjournalen laut einer Studie – die nicht peer-reviewed wurde – heute noch halb so lang. Dauerte die Review vor der Pandemie rund drei Monate, verkürzte sie sich während der Pandemie auf durchschnittlich 51 Tage. In manchen Fällen wird die Peer-Review ganz unter den Tisch fallen gelassen. Dies geschah bei einer Studie zu besagtem Hydroxychloroquin: Zwischen Eingabe der Studie und deren Zulassung vergingen nur 24 Stunden.

  • Ebenfalls nur einen Tag Peer-Review bekam eine Studie, welche hohe Stickstoffdioxid-Konzentrationen in der Luft mit hohen Covid-19-Sterberaten in Verbindung brachte. Deren Resultate waren nicht nur im Guardian, sondern auch in deutschen und Schweizer Zeitungen und kurzzeitig auch hier bei higgs zu lesen. «Ein Paradebeispiel für qualitätslose Quick-and-Dirty-Forschung», kritisierte der Schweizer Forscher Martin Röösli. Er ist Professor für Umweltepidemiologie am Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut. Die Studie bezog sich in der Tat nur auf 66 aggregierte Datenpunkte und hatte erhebliche methodische Mängel. «Man hat in erster Linie gezeigt, dass dort, wo die Stickoxid-Konzentration höher ist, mehr Leute leben und darum auch mehr Covid-19 Todesfälle aufgetreten sind. Wenn man aber nur so wenige Datenpunkte hat, kann man x-beliebige Dinge korrelieren», erklärt er. «Man hätte die Anzahl Todesfälle mit diesem Vorgehen auch zum Beispiel mit Fischkonsum korrelieren können – es wurden ja Gebiete aus Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland verglichen – und hätte wahrscheinlich auch hier eine Korrelation finden können.» Ökologische Korrelationsstudien seien dafür geeignet, Hypothesen zu generieren. Zuverlässig seien sie aber nicht und könnten, falsch eingesetzt, der Glaubwürdigkeit der Forschung schaden.

Die Forschungslandschaft wird also geflutet mit etlichen Studien, welche methodisch nicht überzeugen. «Mit einer Handvoll grosser, mehrarmiger, multinationaler Studien, die die wesentlichen Fragen mit hohen wissenschaftlichen Standards adressieren, wäre uns sicherlich mehr geholfen, als durch eine kaum zu überschauende Masse kleiner Studien mässiger Qualität», sagt Jörg Meerpohl, Direktor von Cochrane Deutschland, einem internationales Netzwerk, das die wissenschaftlichen Grundlagen für Entscheidungen im Gesundheitssystem verbessern will. Das Netzwerk hat deshalb nun damit begonnen, sogenannte rapid reviews zu erstellen, also Übersichtsstudien, welche die Erkenntnisse verschiedener Arbeiten nochmals genauer beleuchten.

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