Benedikt Meyer
Benedikt Meyer ist Historiker und Autor. Mit «Im Flug» hat er die erste wissenschaftliche Geschichte der Schweizer Luftfahrt geschrieben, mit «Nach Ohio» seinen ersten Roman veröffentlicht. Bei higgs erzählt er in der «Zeitreise» jeden Sonntag Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catherine Reponds tragischem Ende und von Henri Dunant bis zu Iris von Roten.
In einem selbstgebastelten Kostüm wurde der Künstler auf die Bühne getragen. Im Cabaret Voltaire an der Zürcher Spiegelgasse sass das Publikum erwartungsfroh auf seinen Plätzen, als Hugo Ball tief Luft holte und eine Serie unverständlicher Laute von sich gab: «jolifanto bambla ô falli bambla grossiga m’pfa habla horem».

Hugo Ball bei einer Vorstellung im Cabaret Voltaire, 1916.
Es geschah Eigenartiges im Zürcher Niederdorf. Es war Frühling 1916 und rings um die Schweiz war nichts als Krieg und Gemetzel. Bei Basel starben 30 000 im Kampf um einen bedeutungslosen Hügel, an der Marne eine halbe Million. 17 Millionen Menschenleben kostete der Erste Weltkrieg, aber in Zürich herrschte gespenstische Normalität. Und so trugen Ball, Hennings, Tsara und andere Abend für Abend Simultangedichte vor, veranstalteten eigenwillige Soiréen und nannten das ganze Dada. Dada: Kunst in der Seifenblase, benannt nach einem Haarwasser.
Wie viel die Zürcherinnen und Zürcher davon mitkriegten, ist fraglich. Das Voltaire ist ziemlich klein und überhaupt hatten die Leute andere Sorgen. Den Kriegsverlauf etwa, oder die Lebensmittelpreise. James Joyce, der in Zürich an seinem «Ulysses» schrieb, war jedenfalls nie im Voltaire. Lenin, der unweit des Lokals an der Revolution tüftelte, auch nicht. Und in der lokalen Presse löste Dada zunächst ein bescheidenes Echo aus. So findet man zum Beispiel in den Zeitungen des Kantons Zürich in den 1910er-Jahren lediglich 11 Artikel zum Stichwort Dada.
«Kroklokwafzi! Semememi! / Seiokrontro – prafriplo; / Bifzi, bafzi; hulalemi: / quasti basti bo… / Lalu lalu lalu lalu la!». Christian Morgensterns «Grosses Lalula» kann kein Dada sein. Denn Morgenstern starb zwei Jahre vor Dadas Geburt. Das Beispiel zeigt, dass Dada nicht aus dem Nichts kam. Lautgedichte, Collagen, Nonsens existierten schon lange zuvor. Auch Marcel Duchamps «Ready Made» waren dadaistisch vor dem Zürcher Dada. Die Metapher von Dada als «Urknall der modernen Kunst» ist daher deutlich übertrieben. Sicher ist indes, dass die Dadaisten Grenzen ausloteten. Sie trieben Absurdität, Schrägheit und Sinnlosigkeit auf eine neue Spitze.
Dada trieb wilde, fantastische, exotische Blüten – und diese verwelkten rasch. Die Dadaisten zerstritten sich bald, was einerseits an ihren Temperamenten lag und zum andern an Dada selbst. Denn Dada war extrem und Extreme werden schnell langweilig. Die Strukturen der Sprache einzureissen, war interessant. Übers linguistische Trümmerfeld zu gehen, weniger. Dada war als Experiment erfolgreich. Zur langfristigen Kunstrichtung aber taugte es nicht. Musste es auch nicht: Die Beteiligten wandten sich neuen Richtungen zu, brachten Dada-Inspirationen etwa in den Surrealismus, in die konkrete Lyrik, die Bildende oder die Performance Kunst.
Als 2016 hundert Jahre Dada gefeiert wurden, konnten Zürcherinnen und Zürcher es kaum mehr verpassen. Dada war überall. In den Museen, auf Stadtrundgängen, in den Feuilletons. Allerorts wurden Bezüge zu Dada gefunden oder zumindest behauptet. Und im Cabaret Voltaire ging man soweit, gar James Joyce, Albert Einstein oder Sigmund Freud zu «Über-Dadaisten» zu erklären. Das war einerseits natürlich komplett hanebüchen und übertrieben. Andererseits aber auch ziemlich dadaistisch.
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