Der Gedanke ist beängstigend: Du wirst in einem Spital behandelt und wartest verzweifelt auf ein dringend benötigtes Medikament. Aber genau dieses ist derzeit nicht verfügbar, weder in deinem Spital, noch in der Schweiz und auch nicht in der EU. Vielleicht hat der Hersteller des Produkts beschlossen, die Produktion des Medikaments aus Kostengründen einzustellen. Ein alternatives Präparat wäre zwar verfügbar, müsste aber noch von den Schweizer Behörden genehmigt und aus dem Ausland eingeführt werden. Oder vielleicht konnte das Unternehmen das Medikament aufgrund eines fehlenden Grundstoffs nicht herstellen. Solche Versorgungsengpässe treten häufiger auf, als man sich vorstellt – auch hier in der Schweiz. Medikamentenmangel betrifft alle Länder der Welt.
Ein Forschungsteam der Berner Fachhochschule BFH ist Teil eines 2015 gestarteten europäischen Forschungsprojekt, an welchem 28 europäische Länder beteiligt sind, die bis im Jahr 2020 unterschiedliche Forschungsbeiträge mit Fokus auf Lieferengpässe bei Medikamenten leisten. Das BFH-Team will das strukturelle und kausale Verständnis von Arzneimittelknappheit verbessern: Warum kommt es zu Engpässen? Welche Akteure sind am Prozess der Herstellung und des Vertriebs von Medikamenten beteiligt? Was sind die Verantwortlichkeiten der Akteure bei Medikamentenmangel? Welches sind die wichtigsten organisatorischen Entscheidungen in Bezug auf Versorgungsengpässe?
Jedes Glied beachten
Die Forschungsgruppe weiss: Die zahlreichen Akteure, die an der Herstellung und dem Vertrieb von Medizinprodukten beteiligt sind, haben oft unterschiedliche, manchmal sogar gegensätzliche Interessen und Motivationen. Und keiner will die volle Verantwortung für einen Medikamentenmangel übernehmen. Während Produktionsfirmen wie Roche oder Novartis wirtschaftliches Wachstum anstreben, sind Krankenhausapotheker besonders an einer hohen Verfügbarkeit und damit Versorgungssicherheit der benötigten Arzneimittel interessiert. Zulassungsbehörden des Bundes wie zum Beispiel Swissmedic hingegen wollen den Markt frei von minderwertigen Medikamenten halten.
Diese unterschiedlichen Interessen führen unter Umständen zu Versorgungsengpässen. Deswegen nahmen die Forschenden die generische Wertschöpfungskette als Grundlage ihrer Überlegungen. Diese beschreibt den Lieferprozess eines Arzneimittels von der Herstellung bis zur Anwendung durch den Patienten und strukturiert den Prozess der Medikamentenversorgung. Ein Medizinprodukt gelangt in der Regel in vier Schritten zum Patienten: Als erstes erfolgt die Produktion beziehungsweise der Import eines Medikaments durch einen Hersteller oder Importeur. Der zweite Schritt fasst alle marketingrelevanten Aktivitäten zusammen, beispielsweise wie ein bestimmter Hersteller seine Produkte auf dem Markt bewirbt. Im dritten Schritt werden die Medizinprodukte an Grosshandelsunternehmen geliefert. Schliesslich endet die Wertschöpfungskette mit der Ausgabe der Medikamente durch die Apotheken oder Ärzte an die Patienten. Jedes Glied in dieser Kette ist mit einer Reihe verwandter Akteure verknüpft.
Die Verantwortlichen befragen
In den einzelnen Ländern wird der Arzneimittelmangel auf unterschiedliche Weise angegangen. In der Schweiz hat das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL zum einen ein Sicherheitsverzeichnis für bestimmte Hersteller und Importeure von lebenswichtigen Medikamenten und Waren wie Impfstoffe oder Antibiotika eingeführt. Zum zweiten hat es eine offen zugängliche Online-Meldeplattform implementiert, auf der aktuelle Medikamentenengpässe aufgelistet werden. Eine ähnliche Plattform bietet auch Enea Martinelli an, Spitalapotheker in Interlaken. Eine nachhaltige Lösung zur Bewältigung zukünftiger Engpässe könnte die Idee sein, einen sogenannten Multi-Stakeholder-Ansatz zu schaffen: Durch die Einbindung aller Akteure der Wertschöpfungskette in ein Kooperationsnetzwerk könnten sowohl Verantwortlichkeiten als auch Aufgaben bewertet und ein besseres Verständnis für Arzneimittelknappheit und die zugrunde liegenden Ursachen entwickelt werden.
Die Forschungsgruppe am Institute for ICT-Based Management der BFH führt nun im Rahmen des Forschungsprojekts Interviews mit Akteuren durch, welche in der Wertschöpfungskette von Medikamenten alle eine unterschiedliche Perspektive haben. Dazu zählen unter anderem Hersteller von Medizinprodukten, nationale und kantonale Behörden, sowie Spitalapotheken. Basierend auf den Aussagen der befragten Personen sollen anschliessend konkrete Anforderungen beschrieben werden, die aus Sicht der jeweiligen Parteien erfüllt werden müssen, um in Zukunft die Zahl von Lieferengpässen zu reduzieren.