Singapurs Premierminister Lee Hsien Loong verkündete 2019, dass der Stadtstaat in den kommenden fünfzig bis 100 Jahren mindestens 100 Milliarden US-Dollar in den Küstenschutz investieren müsse. Im gleichen Jahr gab der indonesische Präsident Joko Widodo bekannt, dass er die Hauptstadt Jakarta, die im letzten Jahrhundert zwei Meter abgesunken ist und immer häufiger überflutet wird, in die Provinz Ostkalimantan auf Borneo verlegen will.
Singapur und Jakarta sind keine Einzelfälle: 62 Prozent der Städte mit mehr als acht Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern liegen am Meer. Allein in Südostasien leben über 400 Millionen Menschen in tief gelegenen Küstengebieten.
«Der Anstieg des Meeresspiegels lässt sich nicht mehr aufhalten.»Oscar Carracedo, Professor für Urban Design an der National University of Singapore
Sie alle sind durch den steigenden Meeresspiegel, Küstenerosion, häufigere Wirbelstürme, Zerstörung von meernahen Ökosystemen und die Versalzung von Böden und Grundwasser bedroht. Durch die globale Erhitzung dehnen sich einerseits die Ozeane aus, andererseits beschleunigt sich das Abschmelzen von Eis an Land. Laut Berechnungen des Weltklimarats IPCC ist der Meeresspiegel in den vergangenen 100 Jahren im globalen Mittel um zwanzig Zentimeter gestiegen. Je nach Klimaszenario wird er bis 2100 um fünfzig bis 100 Zentimeter ansteigen – mit grossen regionalen Unterschieden.
Treibhausgase mit Wasser speichern
«Der Anstieg des Meeresspiegels lässt sich nicht mehr aufhalten», sagt denn auch Oscar Carracedo, Professor für Urban Design an der National University of Singapore. «Für küstennahe Städte gibt es drei Möglichkeiten der Adaption: Schutzmauern bauen, die Städte erhöhen oder sie von der Küstenlinie entfernen.» Carracedo ist leitender Forscher des Projekts «The Sea-City Interface» am Future Cities Lab der ETH Zürich. Seit einem Jahr forscht sein Team an Strategien, wie sich asiatische Küstenstädte im Zuge der zunehmenden Herausforderungen wandeln müssen.
«Die Adaptionsmöglichkeiten sind weitgehend bekannt und sie sind beschränkt», sagt Carracedo. Sein Team wolle einen Schritt weitergehen und Anpassung mit Minderung der Folgen verbinden. «Wir forschen an Städten, die der Umwelt etwas zurückgeben.» Der Stadtplaner spricht von regenerativem Design, mit dem die eingesetzten Ressourcen im Kreislauf gehalten und erneuert werden. Städte sollen künftig nicht nur weniger Emissionen produzieren, sondern sogar Treibhausgase aus der Luft aufnehmen. Dafür wollen die Forschenden nicht allein auf naturbasierte Lösungen setzen, wie zum Beispiel die Aufforstung, sondern auch auf Technologien zur CO₂-Abscheidung.
«Im Hinblick auf die enormen urbanen Herausforderungen müssen wir utopisch denken.»Oscar Carracedo
«Hochhäuser könnten einst zu künstlichen Bäumen werden, die CO₂ aus der Luft aufnehmen », sagt Carracedo. Dafür sind neue Materialien notwendig, die in Gebäudefassaden integriert werden können. Deshalb arbeiten am «Sea-City Interface»-Projekt auch Ingenieurinnen, Physiker, Chemikerinnen und Biologen aus Singapur und Zürich mit.
Die Fokussierung auf Küstenstädte biete sich an, weil für die regenerativen Prozesse und die Speicherung von Treibhausgasen viel Wasser nötig sei, erklärt Carracedo. Auch neue Möglichkeiten der Regenwasserspeicherung und -nutzung sollen jedoch getestet werden. Diese Ideen seien derzeit zwar noch ziemlich utopisch, räumt der Stadtforscher ein. Trotzdem ist er überzeugt: «In Hinblick auf die enormen urbanen Herausforderungen müssen wir utopisch denken. Wir brauchen Disruptionen.»
«Für die Ärmsten gibt es nur eine Priorität: schnellstmögliche Anpassung.»Oscar Carracedo
Dem Forscher ist bewusst, dass solche Visionen für die Millionen von Menschen, die in südostasiatischen Megastädten wie Jakarta in informellen Siedlungen leben, wenig Hoffnung bieten. Ihre Unterstände werden bereits heute vom steigenden Meerwasser weggeschwemmt. «Für die Ärmsten gibt es nur eine Priorität: schnellstmögliche Anpassung.» Das heisst dann doch wieder: Schutzmauern bauen, Städte erhöhen oder sich von der Küstenlinie zurückziehen.