Das musst du wissen

  • Ein neues Buch beleuchtet die zwei Hypothesen zum Ursprung von Sars-CoV-2, ohne aber endgültigen Beweis zu liefern.
  • Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sprechen stark für eine Übertragung vom Tier auf den Menschen.
  • Die Laborunfall-Theorie ist aber noch nicht vom Tisch; die WHO hat im November 2021 die Untersuchung wieder aufgenommen.

Die Biologin Alina Chan und der Wissenschaftsjournalist Matt Ridley haben gerade «Viral» veröffentlicht, ihre Untersuchung über die Ursprünge von Sars-CoV-2. Sie zeigen die Schwächen der These des tierischen Ursprungs auf, ohne sie jedoch auszuschliessen. Vor allem aber rekonstruieren sie das Geflecht der Elemente, die die Hypothese eines versehentlichen Lecks in einem Labor plausibel machen. Beweisen können sie das aber nicht. Vielmehr vernachlässigen die Autoren in ihrem Bestreben, einen Laborunfall plausibel zu machen, die weitaus dringlichere Geschichte, wie der Handel mit Wildtieren in Verbindung mit der globalen Erwärmung und der Zerstörung natürlicher Lebensräume das Auftreten pandemischer Viren immer wahrscheinlicher werden lässt, wie der Guardian schreibt.

Die Autoren. Alina Chan ist Spezialistin für virale Vektoren am Broad Institute, dem gemeinsamen genetischen Forschungszentrum von Harvard und dem Massachusetts Institute of Technology MIT. Sie hat «Viral» zusammen mit Matt Ridley verfasst, einem britischen Wissenschaftsjournalisten, der wegen seiner konservativen – und manchmal sogar klimaskeptischen – Positionen umstritten ist.

Die Verdachte. Alina Chan verglich die Entwicklung von Sars-CoV-2 mit Sars-CoV-1 – das 2002 und 2003 die Sars-Epidemie auslöste – in den ersten Monaten der beiden Epidemien. Sie zeigte sich im März 2020 erstaunt darüber, dass sich das Coronavirus nach seiner Identifizierung im Dezember 2019 fast sofort an den Menschen angepasst hat:

«Sein Cousin, das Sars-Virus von 2003, hatte Monate gebraucht, um vergleichbare Mutationen zur Anpassung an den Menschen zu erwerben. Er zeigte sie erst am Ende der Epidemie.»

Ausgehend von diesem Verdacht, der durch die zufällige Nähe des Marktes in Wuhan und des Instituts für Virologie, einer Hochburg für die Untersuchung von Coronaviren, die in Fledermäusen beprobt wurden, verstärkt wurde, führt sie seit anderthalb Jahren eine Untersuchung durch. Diese beruht aber weniger auf wissenschaftlicher Expertise als auf Informationen, die mithilfe von – zum Teil anonymen – Internet-Detektiven, wie The Seeker oder das Drastic-Kollektiv, gewonnen wurden.

Auf vierhundert Seiten versucht das Buch, das Puzzle der beiden Theorien über den Ursprung des Coronavirus zusammenzusetzen, ohne jedoch die eine oder andere Theorie zu bestätigen oder zu widerlegen. Hier ein Überblick:

Die natürliche Theorie. Die Theorie, dass das Virus von der Fledermaus auf den Menschen übergegangen ist, möglicherweise über einen tierischen Zwischenwirt, wird von den Autoren ausführlich diskutiert. Ihr Hauptargument gegen diese These ist, dass sie bislang nicht bewiesen ist. Alina Chan:

«Trotz Zehntausender Tieranalysen haben die chinesischen Behörden keine Spuren des Coronavirus gefunden, weder in den Tieren, die auf dem Markt in Wuhan verkauft wurden, noch in Tieren, die als Zwischenwirte fungiert haben könnten, um die Adaption des Fledermausvirus auf den Menschen zu erleichtern. Das ist überraschend, da im Fall des Sars-Virus 2003 ein solcher Zwischenwirt [eine Zibetkatzenart, Anm. d. R.] zwei Monate nach dem ersten Fall und im Fall von Mers [Dromedar, Anm. d. R.] innerhalb eines Jahres identifiziert worden war. Damals standen zudem noch keine so effizienten Sequenzierungswerkzeuge zur Verfügung wie heute.»

Faktisch korrekt, stellen diese Beobachtungen jedoch keinen Beweis dar. Das mögliche Entstehungsgebiet von Sars-CoV-2 ist riesig. Wenn die tierische Quelle bisher nicht erwiesen ist, könnte es einfach daran liegen, dass sie noch nicht entdeckt wurde. Doch ein internationales Team von Wissenschaftlern hat zwischen Juli 2020 und Januar 2021 in Laos Fledermäuse gefangen, die ein neues Coronavirus in sich trugen, das eine nahe genetische Übereinstimmung mit Sars-CoV-2 aufweist. Dies könnte die Theorie des natürlichen Ursprungs stützen.

Die Theorie des Laborlecks. Die Zusammenstellung der Elemente, die auf ein mögliches Leck aus dem Labor in Wuhan hindeuten, ist in «Viral» besonders umfassend – ihr schenken die Autoren mehr Aufmerksamkeit als jener des natürlichen Ursprungs:

  • Dokumente zeigen, dass die US-amerikanische Zoonose-Forschungsorganisation EcoHealth Alliance im Jahr 2017 einen Forschungszuschuss für die Einfügung einer Furin-Spaltstelle in das genetische Material von Coronaviren beantragt hatte. Dieser Zuschussantrag wurde abgelehnt. Die Frage, ob das Labor in Wuhan die Forschung dennoch durchgeführt hat, ist jedoch offen.
  • Aus anderen Dokumenten ging nämlich hervor, dass die EcoHealth Alliance sowie die Chapel Hill University in den USA mindestens bis 2016 mit dem Institut für Virologie in Wuhan zusammengearbeitet hatten, um mehrere Coronaviren für menschliche Zellen infektiöser zu machen. Im Institut für Virologie in Wuhan befinden sich die Proben von RaTG13, einem Fledermausvirus, das eine der engsten bekannten genetischen Übereinstimmungen mit Sars-CoV-2 aufweist. Bisher wurden keine Informationen über die anderen Coronaviren aus dem Labor in Wuhan bekannt gegeben. Das Drastic-Kollektiv hat gezeigt, dass seine Datenbank verändert und teilweise gelöscht wurde.

Zusammen mit anderen Elementen bilden diese von den Autoren detailliert beschriebenen Elemente natürlich ein Bündel von Indizien, die den Verdacht nähren. Sie sind jedoch keine absoluten Beweise, wie Alina Chan einräumt.

Denn:

  • Verschiedene Studien, in denen Sars-Cov-2 mit bekannten Methoden zur gentechnischen Veränderung anderer Viren verglichen wurde, fanden keine Spuren von Markern, die normalerweise bei solchen gentechnischen Manipulationen eingesetzt werden.
  • Andere Untersuchungen haben auch gezeigt, dass die Einfügung der Sequenz der Furin-Spaltstelle keinen so grossen Nutzen bringen würde und dass sehr ähnliche Sequenzen in Coronaviren gefunden wurden, die keine Fledermäuse infizieren. Diese Sequenz könnte also das Produkt einer natürlichen Evolution sein.

Die weitere Untersuchung. Auch wenn sich Alina Chan und Matt Ridley vor Schlussfolgerungen zu einer der beiden Hypothesen scheuen, geben sie ihnen eine Wahrscheinlichkeit von fünfzig zu fünfzig.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO räumt ein, dass die Hypothese des Laborlecks eine Möglichkeit ist, die ebenso wie die Hypothese des natürlichen Ursprungs einer Untersuchung bedarf.

Es bleibt abzuwarten, ob die offizielle Untersuchung erfolgreich sein wird. Die in Wuhan durchgeführten Arbeiten, um mehrere Coronaviren für menschliche Zellen infektiöser zu machen, waren das Produkt der Zusammenarbeit zwischen chinesischen und amerikanischen Forschenden und Institutionen. Es ist fraglich, ob diese beiden Länder wirklich den Willen haben werden, eine Untersuchung zu Ende zu führen, die sie auf die Anklagebank setzen könnte.

Das Moratorium. Trotz aller gelieferten Details lässt «Viral» keine Rückschlüsse auf den Ursprung des Virus zu. Aber die Untersuchung beleuchtet wissenschaftliche Praktiken, die Fragen aufwerfen. Auch wenn die Forschung in Wuhan gut gemeint war, nämlich sich besser auf eine Pandemie vorbereiten, bestand das ernste Risiko, dass sie das Gegenteil bewirken würde.

Immer mehr Forschende, wie der amerikanische Epidemiologe Marc Lipsitch oder der MIT-Biologe Kevin Esvelt, stellen die Nutzen-Risiko-Abwägung solcher Forschungen in Frage.

Alina Chan ist da kategorischer und sagt:

«Wenn man solche Forschungen in städtischen Labors durchführt, kommt es dem Risiko nahe, während einer Dürre ein Streichholz in einen Wald zu werfen. Die Gentechnik ist an einem Punkt angelangt, an dem es möglich ist, ein Virus zehntausend Mal infektiöser zu machen. Es ist dringend notwendig, ein striktes Moratorium für solche Forschungen zu verhängen.»

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

Heidi.news

Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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