Das musst du wissen

  • Forschende untersuchten das Gehirn von Probanden, die 10 Stunden entweder Nahrung oder Sozialkontakte entbehren mussten.
  • Auf den Hirnscans sahen die Forscher: Beide Situationen aktivierten dieselben Hirnregionen.
  • Diese Bereiche produzieren den Neurotransmitter Dopamin und spielen eine Rolle bei Entzug, etwa von Schlaf oder Drogen.

Nach einer Isolationsphase sind beim Drang nach sozialen Beziehungen dieselben Hirnstrukturen aktiv wie beim Hungergefühl nach dem Fasten. Dies haben Forschende des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA herausgefunden.

Warum das interessant ist. Neurobiologisch scheinen soziale Interaktionen anderen biologischen Grundbedürfnissen wie Essen oder Schlaf ähnlich zu sein. Deshalb verdienen sie – vom Standpunkt einer ganzheitliche Gesundheit aus – ebenso hohe Aufmerksamkeit.

Hunger nach sozialen Bindungen. Um ihre These zu untersuchen, baten die Neurobiologen des MIT 40 Freiwillige, hauptsächlich Studenten, zuerst zehn Stunden zu fasten, dann zehn Stunden auf soziale Kontakte zu verzichten und schliesslich zehn Stunden ohne besondere Entbehrungen zu verbringen.

Nach jeder Testphase wurden die Teilnehmer gebeten, ihr Verlangen zu beschreiben und sich einem funktionellen Bildgebungsverfahren für das Hirn zu unterziehen. Dabei wurden ihnen nach der Isolation Bilder sozialer Interaktion präsentiert, nach dem Fasten solche mit Nahrung oder nach der Kontrollsitzung Bilder von Blumen. Die Ergebnisse wurden nun in Nature Neuroscience vorgestellt.

Die Ergebnisse.

  • Nach der Isolation fühlen sich die Probanden einsam und äussern einen stärkeren Wunsch nach Interaktion. Diesen nennen die Forscher «Craving», ein Begriff, der bei Sucht verwendet wird und der ein gezieltes Verlangen nach einer Entbehrung beschreibt.
  • Auf dem Hirnbild sieht man nach jeder Testphase, egal ob es dabei um Nahrung oder soziale Interaktion geht, dass ein bestimmter Bereich im Herzen des Gehirns aktiv ist: ein Teil der schwarzen Substanz, «pars compacta» genannt, und direkt daneben auch der sogenannte ventrale tegmentale Bereich.
  • Diese Bereiche produzieren den Neurotransmitter Dopamin, der Gefühle der Freude und Motivation anregt.
  • Die Hirnaktivierung stimmte mit der von den Probanden beschriebenen Intensität des «Craving» überein.

Interpretation. Für die Forschenden ist die Ähnlichkeit der Gehirnreaktionen nach den beiden Arten von Entzug signifikant. Das Verlangen nach Sozialkontakten nach akuter sozialer Isolation wird auf die gleiche Weise verursacht wie die Begierde nach Nahrung nach dem Fasten.
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Dieses Verlangen durchläuft einen «Craving»-Kreislauf, an dem die schwarze Substanz und der ventrale tegmentale Bereich beteiligt sind. Dieser wird auch bei anderen Entzugserscheinungen beschrieben, wie beispielsweise bei Schlafmangel oder Suchtmitteln.

Doch aktiviert sich das Gehirn nicht genau auf dieselbe Art und Weise.

  • Nach dem Fasten beobachten die Forscher, wie zusätzlich zu den genannten Bereichen noch drei weitere Hirnregionen angeregt werden: der vordere cinguläre Kortex, die Insula und die Amygdala.
  • Nach sozialer Isolation tritt Aktivierung nicht nur in der schwarzen Substanz und dem ventralen tegmentalen Bereich auf, sondern auch in anderen Strukturen, wie dem orbitofrontalen Kortex.
  • Wenn auch einige Elemente übereinstimmen, so erzeugt jeder Entzug doch ein eigenes Muster der Hirnaktivierung.

Expertenmeinung. Laut David Rudrauf, Spezialist für affektive und soziale Neurowissenschaften an der Universität Genf, ist diese Arbeit interessant.

«Die beobachteten Signale sind nicht sehr gross, aber es gibt einen Effekt. Intuitiv versteht man, dass sich nach einer Phase der sozialen Isolation ein stärkerer Wunsch nach Interaktion zeigt. Und das ist es, was diese Arbeit bestätigt.

Doch selbst wenn die «pars compacta» der schwarzen Substanz und der ventrale tegmentale Bereich sowohl nach dem Fasten als auch nach der Isolation aktiviert werden, ist unklar, ob sie direkt für das «Craving» verantwortlich sind oder ob sie in Verbindung mit grundlegenderen Mechanismen angeregt werden. Weitere Studien der neurophysiologischen Mechanismen werden notwendig sein, um diesen Punkt zu klären und die Prozesse zu charakterisieren.»

Die Herausforderungen. Im Grenzbereich zwischen Neurowissenschaften und Sozialpsychologie wirft diese Arbeit Fragen auf.

  • Soziale Isolation ist nicht das Gleiche wie Einsamkeit. Man kann in einer Menschenmenge allein sein und sich isolieren, ohne sich einsam zu fühlen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Kontrolle über eine Situation von entscheidender Bedeutung. Man kann sich fragen, ob eine Situation ohne absehbares Ende, wie jetzt bei der Pandemie, nicht das hier beschriebene Gefühl des sozialen «Cravings» beeinflusst.
  • Aus neurologischer Sicht können die Mechanismen bei einer zehn-stündigen Isolation anders sein, als wenn die sozialen Einschränkungen monatelang andauern.
  • Bei einem lang andauernden Gefühl der Entbehrung entwickelt das Gehirn oft kompensatorische Muster. Bilden sich diese bei der langen sozialen Isolation, die wir sie jetzt als kollektive Erfahrung durchmachen?
  • Nahrungs- oder Schlafmangel sind Gegenstand spezifischer medizinischer Interventionen. Sollte die biomedizinische Forschung bald für die Behandlung des Mangels an sozialen Beziehungen Ansätze entwickeln?
Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

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Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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