Der Journalist Dirk Kurbjuweit hat 2010 das Wort «Wutbürger» geprägt. Aus Empörung über politische Entscheide und gesellschaftliche Zustände entwickeln Wutbürger einen Protestwillen, der sich nicht an einem gesellschaftspolitischen Entwurf orientiert, sondern sich als generalisierte Frustration gegen alles Mögliche richten kann: gegen Covid-Massnahmen, gegen 5G-Mobilfunk, gegen Wahlresultate.

Unsere Demokratie scheint für solche lauten, sich über soziale Medien organisierende Minderheiten, schlecht gerüstet zu sein. Politik wird von den meisten Akteuren als öffentlicher Wettstreit zwischen Interessen, Argumenten und Wertorientierungen verstanden. Die Basis dafür ist das Vertrauen in die politischen Institutionen, in das Sachargument und in das Fairplay aller.

Gregor Dürrenberger

Gregor Dürrenberger ist promovierter Naturwissenschaftler. Er hat lange in der Klima- und Technikfolgenforschung gearbeitet. Er war bis 2021 Geschäftsleiter der Forschungsstiftung Strom und Mobilkommunikation an der ETH Zürich.

Genau hier legen die Wutbürger Feuer – Zweifel, Halbwahrheiten, Fake News, Verschwörungstheorien, Diffamierung, Hass – und zählen darauf, dass es über den Brandbeschleuniger «soziale Netzwerke» zu einem Grossfeuer wird. Sie wissen: Das Selbstverständnis der Politiker und der politischen Institutionen verhindert wirkungsvolle Gegenmassnahmen, und mit Entrüstung und Bedauern werden Flammen nicht gelöscht. So bedrohen laute Minderheiten die Demokratie von innen heraus. Das ist mittelfristig ebenso gefährlich wie die traditionell viel stärker im politischen Fokus stehenden äusseren Bedrohungen.

Vertrauen in die Institutionen stärken

Was kann man solchen Stimmen entgegensetzen? Es ist eigentlich simpel: Gegenstimmen. Oder präziser gesagt: Wir brauchen eine «neue Öffentlichkeit». Politiker, Parteien, Behörden, Verbände müssen sich in ihrem Handeln aktiv für die Grundpfeiler der Demokratie einsetzen. Nur so kann die Erosion des Vertrauens in die Institutionen, in das Sachargument und in das Fairplay aufgehalten werden.

Lange mussten die politischen Akteure nicht für diese Werte einstehen, weil sie die unkontroverse Grundlage von Politik und öffentlicher Diskussion waren. Das ist heute nicht mehr der Fall. Wofür die Demokraten einst gekämpft haben, das müssen wir heute wieder tun: die Politik muss klarstellen, dass sie nicht nur eine Arena der Interessenausmarchung ist, sondern auch und vor allem der Pflege und der Stärkung der Demokratie. Das kann nicht ohne Anpassungen der heutigen politischen Rollen und Aufgaben gehen.

Zum Beispiel kann nicht mehr immer die eigene Sicht auf ein Dossier, das persönliche Interesse oder die spezifische Behördenaufgaben das politische Argumentieren und Handeln bestimmen, denn: die Mühlsteine der Interessen optimieren nicht automatisch das Gemeinwohl. Sie können es auch zermahlen. Das Gemeinwohl aber steht im Zentrum jeder demokratischen Politik und ihrer Institutionen.

Behörden sind besonders gefragt

Die Besinnung – oder Rückbesinnung – auf dieses Gemeinwohl richtet sich speziell an die Akteure auf Stufe Legislative und Verwaltung. In aller Regel sind Regierungen in Demokratien bestrebt, Lösungen zum Wohle der Gesamtgesellschaft zu finden – das hat übrigens die Covid-Pandemie beispielhaft gezeigt, auch wenn das laute Minderheiten anders sehen.

Um für die Grundlagen der liberalen Demokratie einzustehen, bedarf es neben obiger Einsicht vor allem Ressourcen seitens der Behörden – Personal, Gelder, Aufmerksamkeit. Bei nicht wachsenden Budgets heisst das, dass die Mittel angestammten «Kerngeschäften» entzogen werden müssen; ein zweifellos schwieriges aber notwendiges Unterfangen.

Die Mittel müssen eingesetzt werden für den Kampf gegen Desinformation, Polemik und Hass; und es müssen dieselben Kanäle bespielt werden, welche die lauten Minderheiten nutzen, jedoch besser, wirksamer, sichtbarer und nachhaltiger; und so, dass sie unsere demokratischen Strukturen und unsere politische Kultur der Mitbestimmung und Mitverantwortung stärken.

Debatten erfordern Faktenwissen

Besondere Aufmerksamkeit gilt hier den «emotionalen» Dossiers wie gegenwärtig etwa Klima, Impfen oder Mobilfunk. Alle diese drei Debatten sind im Kern wissenschaftlich. Ohne Sachkenntnisse sind keine klugen und im langfristigen Landesinteresse stehenden Lösungen möglich. Parlamentarier und Behördenvertreter haben deshalb die Pflicht, sich die Faktenlage anzueignen und ihre politischen Entscheide darauf abzustützen. Ein traditionelles Verständnis eines Amts-, Wähler-, oder Medienauftrags darf keine Legitimation sein, Sachargumente zu ignorieren oder das Gemeinwohl hinter Partikularinteressen zu stellen.

Ein Beispiel: Will die Schweiz die vom Bundesrat beschlossene digitale Strategie umsetzen, geht das nicht ohne leistungsfähige Infrastrukturen. Dazu gehört der Mobilfunk, der seit Jahren viel politischem Gegenwind ausgesetzt ist. Laute Minderheiten erschweren im Namen der Volksgesundheit den Netzaufbau, aktuell von 5G. In der wissenschaftlichen Literatur sind keine Risiken belegt. Politisch wird den kritischen Stimmen trotzdem grosses Gewicht beigemessen, Fakten hin oder her.

Ein Grund dafür sind zweifellos die unterschiedlichen Agenden der für das Dossier zuständigen Bundesbehörden für Umwelt, Kommunikation und Gesundheit. Weder auf Stufe Verwaltung noch auf Stufe Departemente ist man willens, das zu ändern. Eine gesamtgesellschaftlich gesehen überfällige «unité de doctrine», welche der Mobilfunkinfrastruktur zukunftsfähige Rahmenbedingungen geben würde, ist nicht auszumachen. Seit bald zwanzig Jahren dampft die Sache vor sich hin.

Verwaltungen denken anders

Politische Richtungslosigkeit, wie wir das beim Mobilfunk erleben, öffnet lauten Minderheiten Tür und Tor. Dabei könnte schon auf Stufe Chefbeamten einiges erreicht werden, wenn statt eng interpretierter Amtsziele das gesellschaftliche Gemeinwohl und die ungeschminkte wissenschaftliche Datenlage ins Auge gefasst würde. Solches Denken und Handeln ist leider nicht verwaltungstypisch – man siehe als aktuelles Beispiel etwa die Tatenlosigkeit des Bundesamtes für Veterinärwesen in Sachen Hundeimporte.

Würde das Verwaltungshandeln stärker von der Faktenlage und der gesellschaftspolitischen Wohlfahrt als von Ämterlogiken geprägt, könnte man den teilweise absurden Argumente militanter Minderheiten mit geeinter Stimme, auch und gerade in den sozialen Netzwerken, entgegentreten. Die Vollzugsbehörden auf kantonaler und kommunaler Ebene wären dem Bund dafür sicher mehr als dankbar.

In den sozialen Medien Präsenz markieren

Ein «Bewirtschaften» von Debatten auf den demokratiepolitisch relevanten Kanälen liegt im Randbereich des Aufgabenverständnisses einer Behörde. Für das Funktionieren unserer demokratischen Kultur dürfte es aber immer wichtiger werden. Es hängt deshalb am politischen Willen und an den dafür freigespielten Ressourcen, ob es zum Wohle aller gemacht wird oder ob es Wunschdenken bleibt.

Lauten Minderheiten, die alternative Wahrheiten verbreiten, muss mit geeinter Stimme entgegengetreten werden, vor allem wenn das damit zusammenhängende Thema politisch umstritten ist. Nur so wird für Fakten, Sachargumente, gegenseitigen Respekt und andere demokratische Werte kollektiv sichtbar geworben und für sie eingestanden. Wir brauchen diese «neue Öffentlichkeit» als gesellschaftspolitisches Projekt, um der ideologischen Fragmentierung, der mentalen Zersplitterung und der damit einhergehenden Entsolidarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken.

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