Bis zum letzten Herzschlag widmete Peter Geisser sein Leben dem Eisen. 73 Jahre war er, als er am Nachmittag des 27. April 2018 in London einen Vortrag hielt. Natürlich über jene Frage, die ihn sein Leben lang beschäftigt hatte: Wie schafft man es, Eisen in den menschlichen Körper zu schleusen? Am nächsten Abend flog Geisser in die Schweiz zurück – und erlitt einen Herzinfarkt. Das Blut in seinen Adern hörte auf zu zirkulieren. Die Eisenpräparate aber, die er zusammen mit seinem Team entwickelt hatte, verbessern weiterhin die Leben unzähliger Patientinnen und Patienten. Denn Geisser war ein Pionier der Eisenforschung.

St. Gallen als Lebensmittelpunkt

Geboren wurde Peter Geisser im Jahr 1945 in St. Gallen. Seine Mutter zog mit ihm ins Haus ihrer Eltern – der Vater verliess sie noch vor der Geburt des Sohnes. Es war die Grossmutter, die Peter erzog. Und sie war es auch, die ihm einen starken katholischen Glauben mit auf den Weg gab. Jeden Sonntag gingen sie in die Kirche. Diese Gewohnheit behielt Peter Geisser bis ins Alter bei: «Ihm war es wichtig, in die Kirche zu gehen. Er hat den Predigten gern zugehört», erinnert sich seine Tochter Priska Ziegler-Geisser im Gespräch. Wir sitzen in ihrem Garten, eine schwarze Katze schlummert auf ihrem Schoss.

Mit rund 16 Jahren begann Peter Geisser eine Lehre als Laborant bei den Laboratorien Hausmann, ein pharmazeutisches Unternehmen, das auf Infusionslösungen spezialisiert war. Sein Arbeitsweg war denkbar kurz. Sein Elternhaus und das Domizil der Laboratorien Hausmann liegen beide im Sittertobel bei St. Gallen. Nach der Lehre ging er für ein Chemie-Studium ans Technikum in Winterthur, dann an die Universität Freiburg, wo er 1972 doktorierte. Nach zwei Jahren als Oberassistent an der Universität Bern kehrte Peter Geisser zurück ins Sittertobel.
1974 startete er bei den Laboratorien Hausmann als technischer Leiter der Forschungsgruppe Synthese und Galenik. Sein Auftrag: Die Eisenpräparate der Firma weiterentwickeln. Also: Produkte finden, die Eisen in den menschlichen Körper schleusen.

Eisenmangel und Anämie

Der Eisenmangel ist weltweit eine der häufigsten Mangelerkrankungen des Menschen. Zwar trägt ein gesunder Körper nur drei bis fünf Gramm Eisen in sich. Dieses ist aber enorm wichtig: Es ist ein wichtiger Bestandteil roter Blutkörperchen, genauer des Hämoglobins, des Blutfarbstoffs, der Sauerstoff bindet und diesen so im Blutkreislauf transportiert. Jede Sekunde entstehen im Körper zwei Millionen neue rote Blutzellen – unser ganzes Leben lang. Nach etwa 120 Tagen haben die Zellen ihren Dienst getan und werden abgebaut. Der Kreislauf beginnt von vorn und das im Hämoglobin enthaltene Eisen wird rezykliert. Ein Mann braucht täglich zwar nur rund 0,001 Gramm Eisen, eine Frau 0,002 Gramm. Doch ist zu wenig davon in der Nahrung oder verliert man viel Blut, wird Eisenmangel schnell zum Problem. Besonders Frauen und Kinder sind gefährdet.

Eisenmangel kann zu Blutarmut, der sogenannten Anämie, führen. Anämie hat Kurzatmigkeit zur Folge, da zu wenig Hämoglobin für den Transport von Sauerstoff zur Verfügung steht. Zudem ist das Wachstum und die Entwicklung des Körpers und des Gehirns gehemmt und das Immunsystem geschwächt.

Eisentransport ist schwierig

Doch es ist nicht einfach, dem Körper bei Eisenmangel das Eisen von aussen zuzuführen. Denn Eisen zirkuliert im Körper nicht einfach so lose herum. Eisenvorräte im Körper werden in einer Art Protein-Schachtel aufbewahrt, dem Ferritin. Auch wenn das Eisen transportiert wird, zum Beispiel, weil es für die Produktion roter Blutzellen gebraucht wird, geschieht dies in einer Hülle, dem Transferrin. Denn: Würde das Eisen frei in unseren Blutbahnen zirkulieren, würde es oxidieren – salopp könnte man auch sagen, rosten. In der Fachsprache redet man von oxidativem Stress, der der Gesundheit schaden kann. Die Hülle aus Proteinen um das Eisen schützt uns also vor diesem oxidativen Stress.

Je nachdem, in welcher Hülle aber das Eisen in unseren Körper gelangt, kann er es unterschiedlich gut aufnehmen. Am besten geht es mit Eisen von Fleisch und Fisch: Rund 35 Prozent davon nimmt unser Organismus auf. Die gleichzeitige Einnahme von Vitamin C fördert die Aufnahme zusätzlich. Hingegen wird das Eisen in Hülsenfrüchten, Samen, Hafer und Nüssen viel schlechter aufgenommen. Auch der vielfach als Eisenlieferant gerühmte Spinat ist in Wirklichkeit gar nicht so geeignet: Zwar hat er viel Eisen, dieses kann aber kaum aufgenommen werden. «Eisen in der Ernährung war immer ein Thema bei uns zuhause», erinnert sich Geissers Tochter, die heute 42 Jahre alt ist. Sie ist eines von vier Kindern. «Mein Vater betonte immer, dass man rotes Fleisch essen soll, und dass das mit dem Spinat ein Märchen ist.»

Das trojanische Pferd

Geissers Gedanken kreisten stets um das Eisen und die Fragen, wie der Körper es aufnimmt, wie Eisenmangel zu beheben sei. Es waren seine Lebensfragen. Und er wusste, dass die Lösung in der chemischen Verpackung liegen muss. Er musste die richtige Hülle für das Eisen finden, damit er es in den Körper bringt. «Er hat immer vom trojanischen Pferd geredet», erinnert sich Priska Ziegler-Geisser. Und tatsächlich gelang es ihrem Vater, solch ein trojanisches Pferd zu bauen. Das Eisen(III)-hydroxid in Maltofer ist von Polymaltose-Molekülen umgeben und ähnelt in seiner Struktur dem Ferritin.

Peter Geisser schaut im Labor ein Präparat anzVg

Peter Geisser arbeitete sein Leben lang akribisch und viel.

Das Eisenpräparat in Tablettenform war das erste Produkt, das Peter Geisser entwickelte. Mit 10 bis 15 Prozent Eisen, das der Körper aus dem Tablettengehalt aufnimmt, ist es noch heute eines der effektivsten Präparate zur Behebung von Eisenmangel. Das war in den 70er-Jahren, nur wenige Jahre nachdem er bei Hausmann angefangen hatte. Und obwohl ab den 80er-Jahren diese Sparte der Medizinprodukte nur noch wenig profitabel war, hielt Geisser auch weiterhin an der Forschung zu Eisenersatztherapien fest.

Die Gründung von Vifor International

1984 wurden die Laboratorien Hausmann an Galenica verkauft, einer Pharma-Firma mit Sitz in Bern. Und unter der neuen Besitzerin gingen die Eisenpräparate beinahe vergessen. Man setzte wieder mehr auf Infusionslösungen, also die Entwicklung von Flüssigkeiten, welche es ermöglichen, Medikamente intravenös zu verabreichen. Zwar wurde Geisser 1986 Forschungsleiter von Galenica, aber nicht für lange. Sein Interesse lag immer bei Eisenpräparaten und nicht bei Infusionen. So scheiterte er 1989 mit neuen Forschungsanträgen zu Eisenpräparaten. Und er wurde als Forschungsleiter wieder abgesetzt.

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Zwei Jahre später, 1991, schaffte es Geisser aber, das Ruder herumzureissen. Es war eine schwierige Zeit für die Firma. Der Versuch, den Infusionsmarkt zu erobern, war gescheitert und Galenica verkaufte die Infusionsfirmen an B. Braun. Die Eisenpräparate wollte man gar ganz abstellen. Dazu erwog man, sogar das Produkt «Venofer», eines der ältesten und erfolgreichsten Produkte, wegen temporären Herstellungsschwierigkeiten vom Markt zu nehmen. Die Wende brachte, was die Firma heute ein «historisches und sehr persönliches Gespräch» zwischen Geisser und Etienne Jornod, dem damaligen exekutiven Verwaltungsratspräsidenten der Galenica Gruppe, nennt. Was genau im Büro Jornods besprochen wurde, ist nicht überliefert. Klar ist aber, dass sich Geisser mit aller Vehemenz für die Eisenforschung aussprach – und den Chef überzeugte. 1991 wurde auch dank Peter Geissers Überzeugungsarbeit die neue Eisenfirma Vifor International gegründet, die Eisenprodukte der alten Firma wurden also in eine neue umgelagert.

Ein Coup

Dass ihm dies gelang, lag nicht zuletzt an seinem Enthusiasmus für das Element Eisen – und für die Laborarbeit. «Peter Geisser war selber sehr begeistert von seinen Ideen, dadurch konnte er Leute auch mitziehen», erinnert sich Erik Philipp, heute Leiter der Forschungsgruppe chemische und analytische Entwicklung bei Vifor International. «Er hat ja auch seine Präparate an sich selber ausprobiert». Auch in den späten Jahren, als Geisser wieder Forschungsleiter war, jetzt bei der Firma Vifor International, liess er es sich nicht nehmen, regelmässig im Labor vorbeizuschauen. «Wenn irgendeine Synthese lief, wollte er sehen, wie das aussieht von der Farbe her», erzählt Philipp beim Gespräch im Sittertobel. Um Produkte zu testen, habe Geisser stets seinen eigenen Laborspatel dabeigehabt. Ein Zeichen, dass Geisser im Herzen immer Laborant geblieben ist.

Für Geisser war die Gründung der neuen Eisenfirma ein Coup. Denn in den 90er-Jahren tat sich für Eisenprodukte mit der klinischen Anwendung von Erythropoietin, sogenannten Epos, eine neue Ära auf. Erythropoietin ist ein Hormon, das für die Bildung roter Blutkörperchen insbesondere nach einem grösseren Blutverlust wichtig ist. Als Therapeutikum wird künstlich hergestelltes Erythropoetin vorwiegend bei der Behandlung der Blutarmut von Dialysepatienten, bei denen die Blutbildung infolge eines Nierenversagens gestört ist, und nach aggressiven Chemotherapie-Zyklen eingesetzt. Aber Epo allein reicht nicht für die Blutbildung, es ist eben auch zusätzliches Eisen nötig. Dieses muss zur optimalen Wirkung gleichzeitig mit dem Hormon verabreicht werden.

Peter Geisser redet an einem PultzVg

Peter Geisser: ein überzeugender Redner

Doch bevor die Firma Vifor International ihre Produkte, auch die althergebrachten, verkaufen konnte, musste sie sich neuen, strengeren Regulierungen in der Pharmaindustrie anpassen, die in den 1990-er Jahren vollumfänglich zur Geltung kamen. Dies war am Anfang gar nicht so einfach, denn Geisser war kein Mensch der vielen Dokumente. «Der FDA-Inspektion, also der amerikanischen Aufsichtsbehörde, mussten wir Herstellungsprotokolle vorlegen», erzählt Hans-Martin Müller, Site Manager des Vifor Pharma-Standorts St. Gallen. Nur: Den Herstellungsprozess der Eisenprodukte, der die eigentliche Kunst darstellt, hatte Peter Geisser nie notiert. «Er selber hat nichts aufgeschrieben, er hatte das im Kopf und je nachdem wie es gepasst hat, hat er das modifiziert», erinnert sich Müller. Geisser habe in der Firma einen sehr hohen Status gehabt: «Er war der Papst und was er gesagt hat, war sakrosankt». Doch Müller und weitere Kollegen schafften es, die Prozesse zu dokumentieren, und Geisser liess sich endlich von der Nützlichkeit sauberer Protokollierung überzeugen. Geisser entwickelte mit seinem Team bis zu seiner Pensionierung 2010 noch weitere Eisenprodukte.

«Ferinject» bringt Durchbruch

Der eigentliche Durchbruch der Firma Vifor Pharma ist dabei eng verbunden mit einer weiteren Entwicklung Geissers: Der Eisentherapie «Ferinject». Mit diesem Produkt kann eine hohe Menge Eisen in kurzer Zeit in den Körper injiziert werden. Das kann Patienten helfen, die unter Eisenmangel leiden, zum Beispiel wegen chronischen Krankheiten wie chronischer Herzinsuffizienz, chronischen entzündlichen Darmkrankheiten oder chronischer Niereninsuffizienz. Mit «Venofer» hatte das Unternehmen bereits zuvor ein Produkt zur Behandlung von Eisenmangel über Injektionen. Geisser entwickelte es aber weiter und spritzte es sich zu Forschungszwecken sogar selbst. Vifor Pharma ist heute führend im Markt für intravenöse Eisenpräparate.

Geisser arbeitete sein Leben lang akribisch und viel. «Als Kind hätte ich ihn schon noch ein bisschen mehr um mich herum haben wollen», resümiert die Tochter Priska Ziegler-Geisser und streicht über den Kopf der schwarzen Katze im Schoss. «Er war ein Idealist und weniger der Familienmensch», sagt sie. «Er wollte mit dem Eisen den Menschen ‘mehr Leben’ geben, mehr Lebensqualität und Freude.» Sein religiöser Glaube habe ihm stets Inspiration und Antrieb gegeben. Eine christliche Ikone mit der Verkündigungsszene und der Inschrift «Freue dich – Sei froh» hing deshalb auch in seinem Büro. Ebenso wie das Eisen begleitete auch sein religiöser Glaube ihn sein Leben lang. Der Eisenpapst der Schweiz blieb seinen Prinzipien zeitlebens treu. Seine Tochter entschied sich gegen ein Studium der Naturwissenschaften, sie wollte nicht dasselbe machen, wie ihr Vater. Stattdessen wurde sie Theologin – und trägt so das Erbe doch in gewisser Weise weiter.

Pioniergeist Ostschweiz

Menschen, welche das Leben in der Schweiz und manchmal sogar im Aus­land veränderten: Solche Pio­niere gab und gibt es auch in der Ostschweiz. higgs porträtiert bekannte aber auch unbekannte Persönlich­­keiten, die Pionier­leistungen erbrachten. Wir stöbern in den Archiven, reden mit Nachkommen oder gleich mit den Pionieren und Pionierinnen selber. Diese higgs-Serie wird am Ende zu einem attraktiven Coffee-Table-Buch zusammengefasst – ganz nach dem Vorbild des Vorgänger­projektes «Zürcher Pio­­niergeist».
 
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