Kürzlich fand in Zürich ein weiterer Prozess gegen Brian alias «Carlos» statt. Das Gericht hat für den schweizweit bekannten Straftäter eine stationäre Massnahme angeordnet. Der Fall ist nichts anderes als ein Kollateralschaden eines zunehmend polarisierten politischen Systems.

Nachdem das therapeutisch erfolgreiche Sondersetting für «Carlos» 2013 durch eine aggressive Medienkampagne angegriffen wurde, entschieden sich verantwortliche Politiker und Vollzugsbehörden für einen Abbruch. Aufgrund anhaltender medialer und politischer Empörung sträubten sie sich trotz eines günstigeren Angebots und einer Empfehlung des neu verantwortlichen Jugendanwalts lange Zeit dagegen, das für «Carlos» vorgesehene Sondersetting wieder einzuführen. Erst ein Bundesgerichtsbeschluss, der die Wiedereinführung des Sondersettings erzwang, konnte die Politik an den Rechtsstaat zurückzubinden.

Die wochenlange Empörung über das teure Sondersetting führte sowohl im konkreten Strafrechtsfall als auch darüber hinaus zu einer strikteren Anwendung des Jugendstrafrechts. Statistiken sowie Aussagen von praktizierenden Jugendanwälten- und Anwältinnen lassen vermuten, dass Fälle wie die «Carlos»-Affäre schweizweit in bestimmten Fällen zu einer verschärften Anwendung des Jugendstrafrechts führen. Diese Entwicklung wird erklärbar, wenn das Entscheidungskalkül der verantwortlichen Politiker analysiert wird.

Die Affäre um den Fall «Carlos»

Im Jahr 2013 erregte der Fall eines vielfach verurteilten jugendlichen Straftäters die Schweiz. «Carlos», wie der Jugendliche in den Medien genannt wurde, wurde in einem therapeutischen Sondersetting behandelt, nachdem er 2011 eine Person lebensgefährlich mit einem Messer verletzt hatte. Nach mehreren wirkungslosen behördlichen Eingriffen und Massnahmen stellte dieses Sondersetting die erste funktionierende Massnahme für den Straftäter dar.

Das Sondersetting wurde der Öffentlichkeit auf Grund einer TV-Reportage im Schweizer Fernsehen bekannt. Nach der Ausstrahlung des Films startete der Blick eine Kampagne über das monatlich fast 30’000 Franken teure Sondersetting. In der Folge wurde das Thema sowohl von anderen Medien wie auch von bürgerlichen Parteien aufgenommen und schlug sehr hohe Wellen. Den Zürcher Jugendstrafbehörden wurde linke Kuscheljustiz und die Verschwendung von Steuergeldern vorgeworfen. Unter dem immer stärker werdenden medialen und politischen Druck beendeten die Behörden das Sondersetting und verwiesen «Carlos» in eine geschlossene Institution. In einer zwei Wochen nach Bekanntwerden des Sondersettings anberaumten Pressekonferenz sowie in einem Interview beteuerten der verantwortliche Regierungsrat und der leitende Oberjugendanwalt ihre Unwissenheit über Details des Sondersettings sowie beschuldigten den unmittelbar verantwortlichen Jugendanwalt.

Als im April 2014 die Affäre im Kantonsrat diskutiert wurde, sah sich der Regierungsrat beissender Kritik hauptsächlich vonseiten bürgerlicher Parteien ausgesetzt. Trotzdem wurde die Bildung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission durch eine Mehrheit im Kantonsrat abgelehnt sowie ein Vorstoss der SVP auf nationaler Ebene abgewiesen, das Jugendstrafrecht zu verschärfen.

Am 6. November 2019 wurde der mittlerweile 24-Jährige, der jetzt auf eigenen Wunsch unter seinem richtigen Namen Brian bekannt ist, vom Zürcher Bezirksgericht zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten verurteilt, weil er einen Aufseher in der Strafanstalt Pöschwies attackiert hatte. Die Strafe wurde aber zugunsten einer Stationären Massnahme aufgeschoben – einer Therapie, die im Volksmund «kleine Verwahrung» genannt wird.

Angst vor Empörung beeinflusst politische Entscheidungen

Wie die meisten Politikbereiche bietet das Jugendstrafrecht der ausführenden Verwaltung einen gewissen Ermessensspielraum, innerhalb dessen konkrete, mitunter schwierige Politikprobleme lösungsorientiert bearbeitet werden. Angst vor möglicher Empörung vergrössert bei verantwortlichen politischen Akteuren den Anreiz, diese Ermessensspielräume so zu beeinflussen, dass möglichst wenig Anlass zu zukünftiger negativer Berichterstattung besteht.

Wie am Schicksal des Zürcher Justizdirektors unschwer abzulesen ist, stellt solche Empörung eine oft unkontrollierbare Gefahr für Karriere und Ruf von Politikern dar. Etwaige Reaktionen von Medien oder politischen Kräften werden antizipiert und bei der Massnahmenwahl verstärkt berücksichtigt. Wird dieses in der Literatur als Blame Avoidance Behavior beschriebene Verhalten (zu dt. etwa Schuldvermeidungsverhalten) von Politikern verstärkt angewendet, treten andere Ziele, wie beispielsweise die bestmögliche Lösung eines politischen Problems, zwangsläufig in den Hintergrund. Im Fall «Carlos» ist dieser Verdrängungseffekt klar zu beobachten: zeitweise stand nicht mehr die vom Jugendstrafrecht vorgesehene Behandlung im Vordergrund. Stattdessen versuchten die verantwortlichen Akteure, sich vor einer beispiellosen Empörungswelle in Sicherheit zu bringen.

Konsequenzen für die Demokratie

Auch in einer direkten Demokratie wie der Schweiz laufen demokratische Entscheidungsverfahren und Konfliktlösungsprozesse durch das Parlament. Im gegebenen Fall entschied sich der Nationalrat trotz eines entsprechenden Vorstosses der SVP gegen eine Verschärfung des Jugendstrafrechts. Diese Entscheidung gibt somit den politischen Mehrheitswillen wieder. Kommt es nun trotz eines gegenläufigen parlamentarischen Mehrheitsentscheids zu einer verschärften Anwendung des Jugendstrafrechts, bedeutet dies nichts anderes, als dass eine politische Minderheit durch mediale Empörung und Skandalbewirtschaftung eines Einzelfalles demokratische Entscheidungsprozesse umgeht und so der Mehrheit ihren Willen aufzwingt.

Die Debatte um die Polarisierung der Politik in der Schweiz hinkt dieser Einsicht noch hinterher. Führt steigende Polarisierung zu einem Klima, in dem die Anwendung einer Politik demokratische Entscheide vorwegnimmt bzw. schlicht umgeht, reicht es nicht, das Augenmerk auf Wahlen und Abstimmungen zu richten, um die Konsequenzen von Polarisierung vollumfänglich erfassen zu können. Der demokratische Schaden wird auch ohne formale politische Entscheide bereits in der Umsetzung bestehenden Rechts angerichtet.

Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 6. März 2017 auf DeFacto erstpubliziert.

DeFacto

Hier bekommen unsere Kolleginnen und Kollegen von DeFacto, der Plattform der Schweizer Politikwissenschaft, Platz für ihre Beiträge. Thematisch geht’s um die neusten Erkenntnisse aus den Politik- und Sozialwissenschaften. Ihr findet hier zum Beispiel Kurzfassungen von Fachpublikationen sowie Analysen und Kommentare zu aktuellen Ereignissen. Die Beiträge sind von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern selbst geschrieben – hier seid ihr also ganz nah an der Forschung dran.
Alle Beiträge anzeigen
Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende