Das musst du wissen
- Seit Jahren manipuliert die russische Regierung die Massenmedien im Inland.
- Damit will sie die Bevölkerung überzeugen, dass das, wofür die Regierung kämpft, richtig ist.
- Alternative Medien gibt es nur noch sehr wenige – wer berichten möchte, braucht schlaue Strategien.
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Frau Binder, wie neutral ist unsere Berichterstattung im aktuellen Ukraine-Krieg?
Sie ist sehr vielfältig und damit wesentlich besser als das, was Konsumierende russischer Medien derzeit bekommen. Natürlich müssen wir bedenken, dass es in einem Krieg wie diesem von beiden Seiten Falschdarstellungen gibt. Auch die Meldungen aus der Ukraine sind kritisch zu sehen. Aber wenn es darum geht, Fakten zu erfahren und Quellen zu überprüfen, dann funktionieren westliche Medien schon ganz anderes als russische. Denn in den offiziellen russischen Medien wird nichts überprüft.
Eva Binder
Heisst das, dass die russischen Medien sagen können was sie möchten und es wird auch nicht erwartet, dass sie es belegen?
Genau. In Russland gibt es aktuell eine neue Sendung im Programm des ersten staatlichen Fernsehkanals, die heisst AntiFake. Dort wird ein Beispiel nach dem anderen aufgelistet, wie die Ukraine mit Falschnachrichten arbeitet. Die Moderierenden zeigen dann irgendein Bild aus den sozialen Medien. Es gibt keine Quellenangabe, man fragt nicht nach und derjenige, der das kommentiert, sagt: «Dieses Bild ist Fake, weil…», ohne dass da irgendwas recherchiert wird. Das hat sich extrem verschärft und mittlerweile sogar einen Punkt erreicht, wo man sagen muss: Alles, was in den offiziellen russischen Medien in Bezug auf den Krieg in der Ukraine berichtet wird, entspricht nicht dem, was tatsächlich passiert oder anders gesagt: ist von vorne bis hinten gelogen. Was das Wissen um die Geschehnisse in der Ukraine in Europa und in Russland anbelangt gibt es damit zwei vollkommen verschiedene Wirklichkeiten. Das einzig Positive daran: Es gab in unseren Medien noch nie so viel Diskussion darüber, wie die Medien in Russland funktionieren.
Sie waren die Woche vor Kriegsbeginn in Russland. Wie haben Sie die Berichterstattung dort erlebt?
Die Legitimation für den Angriffskrieg wurde in den offiziellen Medien schon vorbereitet. Es begann damit, dass Russland von der Ukraine bedroht sei. Dieses Narrativ wurde dann verstärkt: Es würden ganz schreckliche Dinge im Donbass passieren, es gebe einen Genozid. Das Wort Genozid wurde permanent wiederholt, bestimmt 15-mal in einer einzelnen Talkshow. Dann hiess es, jetzt beginne die Ukraine Angriffe auf die zwei selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk und es müssen Kinder evakuiert werden. Im Fernsehen sah ich dann Bilder, wie Kinder und ihre Mütter in Busse verfrachtet und nach Russland gebracht wurden. Es war die Rede von 70 000 Menschen. In unabhängigen Medien konnte ich dann nachlesen, dass 300 dort angekommen sind. Dann hiess es, die Ukraine müsse denazifiziert und demilitarisiert werden. Im Moment wird berichtet, dass es in der Ukraine Labore für biochemische Waffen gibt, die sie mit Hilfe von Amerika aufgebaut haben.
Diese Art der psychologischen Kriegsführung, den Informationskrieg, führt Russland ja bereits seit mehreren Jahren. Sind das noch die gleichen Strategien wie damals?
Ja, aktuell hat es sich aber beinahe zur Absurdität und ins Unvorstellbare gesteigert. Konkret heisst das: Druck auf unabhängige Berichterstattung, die Schliessung von Webseiten, eine unglaubliche Emotionalisierung der Berichterstattung, also das Arbeiten mit der Angst der Menschen, mit Aggression und vor allem natürlich mit Falschinformationen. Ein wichtiger Teil dieses Propagandainstrumentariums, das seit 2013 konsequent entwickelt und angewandt wird, ist die sogenannte Troll-Fabrik. Das sind Menschen, die dafür bezahlt werden, pro-russische Kommentare in westlichen Online-Foren und für die Kommentarbereiche von Nachrichten-Seiten zu verfassen, von Beschimpfungen über Behauptungen zu Falschnachrichten und Gerüchten.
Die Lage in Russland hat sich seit Kriegsbeginn zugespitzt – gibt es überhaupt noch unabhängige Medien in Russland?
Nicht mehr viele, nein. Der Radiosender Echo Moskwy beispielsweise wurde eine Woche nach Kriegsbeginn abgeschaltet, die Webseite vom Netz genommen. Gleiches gilt für den Internet-Fernsehsender Doschd. Es gibt aber natürlich noch Kanäle, die sie bespielen. Die Mitarbeitenden des Radiosenders haben einen Kanal auf Youtube eingerichtet und übermitteln Informationen über Instant-Messaging-Dienste wie Telegram. Zu Doschd wiederum gehört eine Internet-Zeitung im Abo-System mit dem Titel Republic, die vor allem kommentierende Analysen zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft verfassen. Die haben eine ganze schlaue Strategie und publizieren umfassende Artikel zur russischen und sowjetischen Geschichte, beispielsweise über russische Zaren. Über Nikolaus II. kann man nachlesen, dass er geglaubt hat, er hätte das Volk hinter sich und dann im Jahr 1917 bitter enttäuscht wurde. Oder über Paul I. und wie er 1801 von Verschwörern ermordet wurde. Das lässt sich alles so wunderbar auf die heutige Zeit lesen. Auch die Zeitung Nowaja Gaseta, deren Chefredakteur Dmitri Muratow den Friedensnobelpreis bekommen hat, publiziert noch immer. Die Möglichkeiten der Berichterstattung sind aber extrem eingeschränkt, da jede nicht der offiziellen Information entsprechende Berichterstattung über den Krieg – und überhaupt die Bezeichnung «Krieg» – unter Strafe steht.
Die breite Bevölkerung in Russland wird das wahrscheinlich nicht erreichen und die Analogien vielleicht auch nicht verstehen.
An die breite Bevölkerung richten sich diese alternativen Medien alle nicht, das muss man leider sagen. Das trifft aber auch auf Qualitätsmedien in anderen Ländern zu. In Russland kommt nun aber hinzu, dass es ein gewisses technisches Know-how erfordert, um die Sperren etwa über einen VPN-Zugang zu umgehen. Und auch eine Entschlossenheit, eine andere Berichterstattung nachzuvollziehen. Doch selbst wenn diese alternativen Medien leicht zugänglich wären, glaube ich, dass sich jene Menschen nur sehr schwer davon überzeugen lassen würden, die das glauben, was offiziell über das russische Fernsehen berichtet wird.
Wie kann man hier gegensteuern?
Es braucht eine Unterstützung dieser russischsprachigen Medien. Doch was genau und wie viel wir tun müssen, um die russischsprachige Bevölkerung zu erreichen, ist eine schwierige Frage. Es ist aber die falsche Strategie, Menschen in Russland von unseren Informationen abzuschneiden. Genau das passiert nun aber zum Teil durch die Sanktionen. Die Sanktionen sind ein zweischneidiges Schwert, denn dadurch werden auch diejenigen, die gegen die Macht in Russland sind, von der westlichen Welt isoliert. Eigentlich müsste man das Gegenteil tun, also versuchen, Fakten in Russland besser zu verbreiten.
Können Sie einschätzen, wie viele Menschen denn wirklich hinter Putin stehen?
Das lässt sich nicht klar ermitteln und auch nicht überprüfen. Ich glaube aber, dass ganz viele Menschen in Russland mit der Politik nichts zu tun haben wollen. Das heisst, dass sie sich nicht mit politischen Nachrichten befassen und dann natürlich auch wenig Meinung haben.
Woher kommt das?
Wahlen in Russland werden seit zwanzig Jahren manipuliert und gefälscht. Wieso soll sich da jemand mit Politik befassen, wenn die Stimme gar nicht zählt? Zudem war die Fernsehpropaganda 2014 und 2015 dermassen emotionalisierend und aggressiv, dass sich Menschen psychisch bedroht fühlten, wenn sie sich Sendungen auf die Dauer anschauten. Und irgendwann haben viele Leute aufgehört, politische Sendungen zu schauen und Informationen zu verfolgen. Doch von diesen Menschen spricht man selten. Genauso wenig wie von jenen, die Russland nun verlassen haben. Angeblich sind bereits mehr als 60 000 nach Georgien gereist. Sie fliehen quasi vor dem staatlichen Repressionsapparat, den Russland hochgefahren hat. Die Repressionen gegen Medien oder auch unabhängige NGOs haben stark zugenommen, wenn man sich das vergangene Jahr anschaut. Und was in diesen wenigen Kriegstagen bisher alles passiert ist, übertrifft noch einmal alles Vorstellbare. Auch die Schnelligkeit, in der neue repressive Gesetze beschlossen werden – ich habe Bekannte und Freunde in Russland, die sind einfach alle perplex und entsetzt darüber, was da gerade passiert.