Die Religionswissenschaftlerin Hannan Salamat hält als Fachleiterin Islam am Zürcher Institut für interreligiösen Dialog unter anderem Vorträge über Islamischen Feminismus. Sie gibt im Interview einen kleinen Einblick in diese Denkrichtung, die zu gross ist und eine zu lange Tradition hat, als dass man sie in einem Aufwasch umfassend beleuchten und erklären könnte.

Hannan Salamat, dass es einen Islamischen Feminismus gibt, ist hierzulande vermutlich vielen Menschen nicht bekannt. Was versteht man darunter?

Eine eindeutige Definition von «Islamischem Feminismus» ist nicht ohne Weiteres möglich. Unter diesem Begriff lässt sich eine Bandbreite weitreichender Handlungen zusammenfassen, die zum Teil ganz unterschiedlich ausgerichtet sind. Islamischer Feminismus ist erst mal ein Sammelbegriff aus der Wissenschaft, also ein Label und keine Wesensbeschreibung. Viele Akteurinnen bezeichnen das, was sie machen nicht als «Feminismus», andere definieren sich wiederum als Feministinnen.

Hannan Salamat

Hannan Salamat ist Islam- und Kulturwissenschaftlerin und seit Anfang 2019 Fachleiterin Islam am Zürcher Institut für interreligiösen Dialog ZIID.


Das heisst, Islamischer Feminismus hat viele verschiedene Ausprägungen?

Das Problem der Definition beginnt schon beim Feminismus selbst. Feminismus ist vielfältig und variiert – je nachdem, welche Gesellschaft oder historische Zeit wir uns anschauen. Das macht sich auch in den verschiedenen Bezeichnungen bemerkbar – Sozialer Feminismus, Queer-Feminismus, Schwarzer Feminismus etc.

Gibt es einen Kern, der den Islamischen Feminismen gemeinsam ist?

Als Teil der weltweiten Frauenbewegung möchte auch der Islamische Feminismus gesellschaftliche Veränderungen erreichen. Innerislamisch geht der Islamische Feminismus gegen frauenfeindliche Auslegungen und Interpretationen islamischer Quellen vor. Im westlichen Kontext kämpft er gegen plumpe Narrative des patriarchalen, sexistischen und gewalttätigen Islam und den antimuslimischen Rassismus. An beiden Fronten geht es darum, zu beweisen, dass der Islam und islamische Quellen eine Basis für Gerechtigkeit für alle Menschen bieten.

Welche Rolle spielt der Koran für den Islamischen Feminismus?

Eine Position, die sich innerhalb Islamischer Feminismen entwickelt hat, ist die feministische Koranexegese. Um einer politischen und gesellschaftlichen Veränderung im Sinne einer Gleichstellung nachzugehen, schauen sich die Akteurinnen die islamischen Quellen an, also den Koran und die Überlieferungen des Propheten Muhammad (Hadith). Sie stellen Dominanz- und Machtverhältnisse in der Koranauslegung infrage. Dabei wenden sie die klassisch-exegetischen Methoden an, zum Beispiel die historische Einordnung der Koranverse oder die selbstständige Interpretation der Rechtsquellen.

Welche Namen sollte man kennen, wenn man sich mit Islamischem Feminismus beschäftigen möchte?

Einige Vordenkerinnen, die sich nicht alle selbst als Feministinnen beschreiben, aber in ihrer Wirkung dazu zählen, sind die Islamwissenschaftlerin Amina Wadud, die Theologin Riffat Hassan, die Linguistin Olfa Youssef, die Anthropologin Ziba Mir-Hosseini und die Religionswissenschaftlerin Sa’diyya Shaikh sowie Organisationen wie die «Sisters in Islam» oder die «Musawah-Bewegung» in Malaysia.

Amina WadudOregon State University

Amina Wadud, Professorin für Islamwissenschaften an der Virginia Commonwealth University, argumentiert auf Grundlage des Islam für eine Gleichstellung der Frauen sowohl innerhalb der Familie bzw. des islamischen Familienrechts als auch bei der Ausübung religiöser Funktionen.

Gab es auch früher schon Frauen, die sich mit der islamischen Theologie beschäftigt haben?

Frauen als religiöse Autoritäten sind keine Neuheit. In der islamischen Geschichte sind sie zwar nicht die Regel, jedoch gibt es zu viele Beispiele, als dass man von absoluten Ausnahmen sprechen könnte. So hat eine der Ehefrauen des Propheten, Hafsa bint ‘Umar, die eine vollständige und zuverlässige Sammlung von Koransuren aufbewahrte, dazu beigetragen, den Koran zu verschriftlichen. Oder Aisha, eine weitere Frau des Propheten, die in den authentischen sunnitischen Hadith-Sammlungen eine wichtige Rolle in den Überlieferungsketten spielt. Ab dem 10. Jahrhundert spielen Frauen in der Überlieferung der verschriftlichten Hadithen eine wichtige Rolle. Sie haben selbst Schülerinnen und Lehrerlaubnis. Auch in verschiedenen theologischen Disziplinen wie der Systematischen Theologie – kalām – oder der islamischen Normlehre – fiqh – und auch der Mystik lassen sich eine Reihe von weiblichen Gelehrten finden.

Dann gibt es ja eine lange Tradition von Frauen in den Islamwissenschaften?

Frauen waren in der islamischen Geschichte nicht grundsätzlich ausgeschlossen und spielten vor allem eine wichtige Rolle, wenn es um Wissensvermittlung an andere Frauen ging. So hatten sie einen gewissen Einfluss auf die islamischen Denkschulen. Dennoch haben, je nach zeitlichem und örtlichem Kontext, gesellschaftliche Konventionen der Geschlechterbeziehungen und Machtverhältnisse eine uneingeschränkte Partizipation erschwert. Damit befasst sich ein weiterer Ansatz des Islamischen Feminismus. Auch wenn die Soziologin Fatima Mernissi (1940–2015) labellos bleiben wollte und sich vom Islamischen Feminismus fernhielt, ist sie hier zu erwähnen. Sie befasste sich mit Frauenrollen in der frühen muslimischen Geschichte und der Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben. Sie kam zu dem Schluss, dass ein männliches Narrativ in der Geschichtsschreibung dominiert hat, und machte darauf aufmerksam, dass die Geschichte keine unschuldige Aufreihung von Ereignissen ist.

Ähnlich wie in der europäischen Geschichtsschreibung.

Eine Reihe von Wissenschaftlerinnen und Akteurinnen setzt sich vor allem dafür ein, dass Frauen in der Mitte der Gesellschaft sichtbar sind und nicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, dass sie einen hohen Grad an Eigenständigkeit und Selbstbestimmung erlangen in Gesellschaften mit muslimischer Mehr- und Minderheit. Diese Menschen brechen mit islamisch erzählten Geschlechternormen unter dem Verweis auf historische Bedingungen und kulturelle Konstruktionen. Sie kämpfen zudem gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen Armut und für einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe. Sie lehnen die Instrumentalisierung des Islams als politische Ideologie ab und engagieren sich für einen gesellschaftlichen Wandel aus den islamischen Quellen oder islamischen Kulturen, Traditionen oder Geschichten heraus. Dieser Ansatz bezieht sich im Vergleich zu der ersten Position vermehrt auf die allgemeinen ethischen Werte des Korans und bedient sich weniger theologischer als islam- oder sozialwissenschaftlicher Methoden.

Welche Rolle spielt Europa in dieser Diskussion?

Eine weitere Position innerhalb des Islamischen Feminismus befasst sich sehr stark mit eurozentristischen und kolonialen wie postkolonialen Erzählungen und stellt sich gegen die Vormundschaft «des Westens». Sie hinterfragen Kategorien wie «die muslimische Frau», die in eurozentristischen Erzählungen entweder die «Unterdrückte», die «Unmündige» oder die «IS-Braut» ist. Diese Erzählungen führen dazu, dass Musliminnen in der öffentlichen Wahrnehmung vom Subjekt zum Objekt werden und ihnen die Selbstbestimmung abgesprochen wird.

Aber diese Frauen gibt es doch auch?

Die genannten Akteurinnen ignorieren nicht, dass in vielen islamischen Gesellschaften Frauen tatsächlich benachteiligt werden, und verharmlosen die Situation nicht. Sie stellen sich jedoch gegen die politische Instrumentalisierung der Idee, dass der Islam Frauen unterdrücke, und gegen die Erzählung, das sei der wahre Islam. Ihr Engagement gilt daher verstärkt der Mündigkeit von Frauen. Und sie stellen sich sowohl gegen die politische Instrumentalisierung der Religion als auch gegen Islamophobie, die den Frauen Mündigkeit abspricht.

Gibt es weitere Themenfelder, mit denen sich der Islamische Feminismus beschäftigt?

Auch wenn eine universelle Definition nicht möglich ist, eint die Intersektionalität die verschiedenen Islamischen Feminismen. Intersektionalität wurde vor allem im Bereich des Schwarzen Feminismus geprägt und thematisiert unterschiedlich miteinander wirkende Arten der Ausgrenzung. Das heisst im Klartext: wenn man nicht nur als Frau, sondern als schwarze oder muslimische Frau Ausgrenzung erfährt. So richtet sich der Islamische Feminismus auch gegen Rassismus, Klassismus, Armut und andere gesellschaftliche Missstände und Diskriminierungsformen.

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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