«Das Negerhirn wäre nie in der Lage gewesen, die Initiative für solch komplizierte Arbeiten zu ergreifen», notierte der britische Forscher James Theodore Bent im Jahr 1896. Er untersuchte damals gerade die afrikanische Ruinenstadt Gross-Simbabwe im heutigen Simbabwe und war davon überzeugt, dass nicht Eingeborene die grösste afrikanische Steinsiedlung aus vorkolonialer Zeit erbaut hätten. Stattdessen seien die Konstrukteure Araber gewesen, schrieb Bent. Die schwarze Bevölkerung dagegen hätte bloss Sklavenarbeit verrichtet. Diese rassistische Deutung der Vergangenheit passte ins damalige europäische Weltbild und half den britischen Kolonialherren, ihre Unterdrückungsherrschaft als angeblich überlegene Rasse zu rechtfertigen. Dementsprechend harsch reagierten die kolonialen Siedler, als der Archäologe David Randal-MacIver 1905 nach Grabungen in der Stadt eine neue Theorie vorstellte: Nicht Araber hätten die Stadt geplant, sondern das lokale Volk der Bantu. Denn sämtliche seiner Fundstücke ähnelten Gegenständen, die er in zeitgenössischen afrikanischen Kulturen fand. Seine Widersacher dagegen liessen sich nicht überzeugen und hielten an ihren Vorurteilen über die Afrikaner fest, die sie für unfähig hielten. Der Widerstand war zäh. Erst Jahrzehnte später setzte sich Randal-MacIvers Interpretation langsam durch.
«Dass falsch interpretiert wurde, merkt man oft erst, wenn sich die gesellschaftliche Sichtweise ändert», sagt Ulrich Schädler, Archäologe und Leiter des Schweizerischen Spielmuseums. Durch Vorurteile könnten Irrtümer oder falsche Bilder der Vergangenheit entstehen, die kaum jemand in Frage stellt, sagt er. Auch heute noch. Beispielsweise haben Forschende lange Zeit nur «die Römer» untersucht – von den Römerinnen dagegen sprach niemand, sagt Schädler: «Erst durch die Genderdebatte in den letzten Jahren kam die Frage auf, wie die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau in der Antike ausgesehen hat.» Wenn Forschende auch diese Aspekte miteinbeziehen, erhalten sie einen kompletteren Blick auf die vergangenen Zivilisationen.
Vermeintliche Krone
Manchmal sind die Irrwege der Archäologie banaler – dafür umso unterhaltsamer. So fand im Jahr 1838 ein deutscher Sammler in einem frühmittelalterlichen Grab einen bronzenen Reif mit verzierten Dreiecken: Eine Krone, die einst ein königliches Haupt zierte, dachte der Archäologe. Dass er falsch lag, flog erst auf, als ähnliche Bronzebeschläge an einem gut erhaltenen Holzeimer gefunden wurden. Die ursprüngliche Deutung als Kopfschmuck kann Annika Thewes aber nachvollziehen. Sie ist wissenschaftliche Leiterin einer Ausstellung im deutschen Herne, die sich mit Irrtümern und Fälschungen in der Archäologie befasst. «Ein Reif mit Dreiecken erinnert nun mal an eine Krone», sagt die Archäologin. Wenn das Fundstück dann noch unvollständig ist, können solche Fehler passieren. «Dahinter steckt keine böse Absicht, manchmal läuft es einfach unglücklich», sagt Thewes.
Suche nach einer Erklärung
Doch selbst wenn Artefakte gut erhalten aus dem Boden ausgegraben werden, ist der Fall nicht immer klar. Wie beispielsweise bei einem grauen Häufchen kompakter Masse von der Form eines Brotlaibes, der in einer Pfahlbausiedlung bei Zug gefunden wurde. Das Museum für Urgeschichte in Zug stellte es 15 Jahre lang aus, bezeichnet als Brot aus der Steinzeit. Als das Museum das Brot dann nachbacken wollte, beauftragte es Andreas Geiss, einen Wiener Spezialisten für prähistorisches Gebäck, die Zutaten zu identifizieren. Dieser analysierte den Klumpen und kam zum Schluss: Es ist uralter Kot. Daraufhin liessen die Museumsleute das Objekt genauer untersuchen – und abermals traten Unstimmigkeiten auf. Im vermeintlichen Kot fehlten Parasiteneier und Pilze, die normalerweise in Exkrementen zu finden sind. Schliesslich wurde man sich einig: Der Klumpen ist ein Stück Torf, den Wasser über die Jahre wie einen Kieselstein rund gewaschen hat. Das Museum entfernte den Klumpen aus der Ausstellung.
Beim Beispiel des vermeintlichen Brötchens halfen schliesslich moderne wissenschaftliche Methoden bei der genauen Datierung und der Bestimmung der chemischen Zusammensetzung – und damit bei der Interpretation des Fundes. Ob durch moderne Methoden die Irrtümer aber insgesamt seltener werden, kann Annika Thewes nicht beurteilen. «Als Archäologin will ich wissen, wofür etwas da war.» Daher falle es ihr schwer zu sagen: «Ich weiss es nicht.» So sucht man instinktiv eine Erklärung.
Vielleicht gebe es aus diesem Grund in der Archäologie eine Neigung, Fundstücke mit Ritualen in Verbindung zu bringen, nämlich dann wenn keine andere Erklärung zu finden ist, meint Thewes. Zum Beispiel das berühmte Stonehenge in England, dessen genauer Zweck nach wie vor unklar ist. Für einige Archäologen sind die Steinkreise ein Ort für Rituale einer längst vergangenen Kultur, andere halten es für eine Begräbnisstätte. Wieder andere argumentieren, Stonehenge sei ein Heilort gewesen, ähnlich dem heutigen Lourdes. Genau weiss es niemand.
Falsches Wissen hält sich hartnäckig
«So funktioniert Wissenschaft nun mal», sagt Ulrich Schädler, der auch schon geholfen hat, Irrtümer aufzudecken (siehe Box). «Jemand muss eine erste Theorie wagen, die andere dann überprüfen können», sagt Schädler. Allerdings steigt auch für Archäologen der Druck, ständig neue wissenschaftliche Studien zu veröffentlichen. «Das kann zu Schnellschüssen führen», sagt Schädler. Er will niemanden beschuldigen, doch mit möglichst spektakulären Funden könne man schon mediale Aufmerksamkeit erheischen – und mitunter spektakulär daneben liegen.
Dennoch: Dass sich in der Archäologie immer wieder Irrtümer einschleichen, finden weder Thewes noch Schädler schlimm. Denn in der Fachwelt würden sich neue Einsichten meist schnell durchsetzen, sagt Schädler. Anders aber sei es in der Bevölkerung: «Da ist falsches Wissen teilweise fast nicht mehr wegzukriegen.» So sind sich Forscher zum Beispiel seit Jahrhunderten sicher, dass die antiken Statuen der Römer und Griechen ursprünglich mit knalligen Farben angepinselt waren. Wissenschaftler haben sogar rekonstruiert, wie die bunten Statuen aussahen. «Dennoch denken viele Menschen immer noch, dass die Statuen schon immer so weiss waren wie jetzt», sagt Schädler.
Doch auch die neusten Erkenntnisse der Archäologen sind nicht in Stein gemeisselt. Vielleicht würden sich heutige Deutungen in fünfzig Jahren als komplett falsch erweisen, meint Schädler: «Unser aktuelles Wissen ist immer nur der letzte Stand des Irrtums.»
Doch keine Mühle
Vor etwa 100 Jahren interpretierte der Archäologe Carl Blümlein kreisförmige, geachtelte Einkerbungen in Böden römischer Gebäude als Rundmühle, eine einfachere, runde Version des heute bekannten Mühlespiels. Bald verkauften Firmen das Spiel als das einzige Spiel aus der Antike, dessen Regeln bekannt seien. Erst nachdem vor etwa 15 Jahren ein Schüler im Mathematikunterricht die Rundmühle minutiös analysiert hatte, merkten auch Wissenschaftler, dass das Spiel eigentlich gar nicht funktioniert. «Die Rundmühle geht nie zu Ende», sagt Ulrich Schädler. «Wenn beide Spieler richtig spielen, kann niemand gewinnen.» Seine Schlussfolgerung: Die runden Einkerbungen waren gar kein Mühlespiel, sondern möglicherweise ein römisches Wurfspiel, bei dem Münzen in die Felder am Boden geschleudert werden mussten.