Unsere grosse Sommerserie über die Geschichte des Telefons. In der Schweiz und auf der Welt.
- Teil 1: Der Schweizer Telefonpionier, den niemand kennt
- Teil 2: Wetten, du errätst nicht welches Handy am meisten verkauft wurde? (30. Juli)
- Teil 3: Die Geschichte der ersten Telefonbauer (6. August)
- Teil 4: Eigentlich begann alles mit dem Stück eines Besenstiels (13. August)
- Teil 5: Eine Manufaktur in der schnellen Entwicklung der Telegrafie (20. August)
- Teil 6: Eine Erfindung verändert die Kabelwelt (27. August)
- Teil 7: Warum das erste Glasfaserkabel in Zürich ein Fail war (3. September)
- Teil 8: Wie das Licht in das Kabel kam (10. September)
- Teil 9: Wie die Schweiz das erste Land mit vollautomatischem Telefonnetz wurde (17. September)
Nachdem Juditha Krüsi ihren Buben geboren hatte – sie nannte ihn Johann Heinrich –, beging sie den Fehler, den mutmasslichen Vater zu verklagen, denn das Kind war unehelich – und zu jener Zeit, im Jahr 1843 im Kanton Appenzell Ausserrhoden, gab es wenig, was schädlicher schien. Wer unehelich geboren war, hatte in der Regel kein einfaches Leben vor sich. Das wollte Juditha Krüsi ihrem Buben ersparen. Vielleicht war der Vater ein reicher Mann und hätte wenigstens für eine gute Ausbildung sorgen können, vielleicht hätte er sie gar heiraten müssen – wie dem auch sei, das Gericht entschied gegen Juditha Krüsi und das Urteil war so hart, dass der Verdacht aufkommt, dass es sich bei jenem mutmasslichen Vater um einen mächtigen, einflussreichen Honoratioren in Ausserrhoden gehandelt haben muss. Juditha Krüsi habe die Behörden belogen und den Mann verleumdet, befand das Gericht, und man warf die junge Frau für vier Wochen ins Gefängnis. Ausserdem wurde sie mit zwanzig Schlägen mit der Rute bestraft. Das Kind nahm man ihr weg. Johann Heinrich Krüsi kam ins Waisenhaus von Speicher AR. Ob Juditha Krüsi ihren Buben je wieder zu Gesicht bekam, wissen wir nicht.
Auch ohne Mutter und ohne Vater ging Johann Heinrich Krüsi seinen Weg, einen weiten Weg, der ihn nach Amerika führte und erfolgreich machte. John Kruesi, wie er sich in der Neuen Welt nannte, wurde sehr reich und starb in Schenectady, einer kleinen Stadt im Staat New York. Er starb als Generaldirektor von General Electric, schon damals einer der grössten Konzerne der Welt. Niemand hätte das voraussehen können, Krüsis Leben ist ein Triumph eines Armen und Verschupften, aber auch ein klassisches Beispiel einer Schweizer Karriere, die vieles darüber aussagt, was uns ausmacht, was wir können und was nicht. Deshalb erzählen wir hier John Kruesis Geschichte.
Im Waisenhaus von Speicher herrschte ein sadistisches Regime: Die Kinder wurden ausgenutzt und geschlagen, im Webkeller setzte man sie als billige Arbeitskräfte ein. Alfred Altherr, ein Freund, der hier mit Kruesi aufwuchs und der es später zum Pfarrer bringen sollte, erinnerte sich: «Johann Krüsi und ich waren nichts als kleine Weberlein. Dreimal täglich mussten wir aus zinnernen Schüsselchen unser Habermus essen. Wir lernten wenig, man schlug uns mit Ruten und traf mitunter den Unrechten.» Im Alter von 17 Jahren begann Johann Heinrich Krüsi eine Schlosserlehre, was ihm seine Bürgergemeinde St. Fiden finanziell ermöglicht hatte. Nach der Lehre reiste er ins Ausland. Als Handwerker offenbar überaus gefragt, arbeitete er in Salzburg, im deutschen Plauen, in Kopenhagen, Paris und Hamburg, kurze Zeit war er auch für die Vereinigten Schweizer Bahnen in Rorschach tätig, einer privaten Bahngesellschaft. 1870 entschied er sich, mit einem Freund nach Amerika auszuwandern. In New York gelandet, kamen die beiden bei der Nähmaschinenfabrik Singer unter. Bald erfuhren sie von einem Mann, der sagenhafte Erfindungen machte, sie meldeten sich in dessen Werkstatt und wurden sogleich angestellt. Ihr neuer Chef hiess Edison.
Der Zauberer von Menlo Park
Thomas Alva Edison (1847–1931) war zu jener Zeit bereits einer der berühmtesten Menschen Amerikas, wenn nicht der Welt. Heute bewundern wir ihn als Schöpfer der Glühbirne, tatsächlich hat er viel mehr erfunden: so etwa den Phonographen, aus dem sich der Plattenspieler entwickeln sollte, bessere Telegrafen, bessere Telefone, bessere Mikrofone, den Börsenticker oder eine erste Art von Filmkamera; in Manhattan zog er das erste komplette Stromnetz der Welt hoch. Zahllos sind die Patente, die auf ihn lauteten. In Menlo Park, New Jersey, bei New York hatte er ein modernes Forschungslabor errichtet, wo neue Dinge im Akkord geschaffen wurden. Doch entgegen der Legende war Edison nicht das einsame Genie, der dies alles allein entwickelt hätte, sondern er war ein Chef, den man heute als Teamplayer bezeichnen würde. Er hatte ein scharfes Auge für gute Leute, er umwarb sie, beteiligte sie an seinen vielen Firmen, er formte aus ihnen ein Jahrhundertteam. John Kruesi gehörte dazu. Man nannte diese Leute, alles junge Männer aus aller Welt, die «Muckers», eine verschworene Gemeinschaft von Freunden, Innovatoren, Handwerkern, Fantasten, Spinnern und Genies, doch alles drehte sich um Edison, weil er der beste unter ihnen schien, was alle anerkannten. Er arbeitete am längsten und am effizientesten, er hatte die meisten Einfälle, er war sich für nichts zu schade. Als John Ott, ein anderer Mucker, ihn zum ersten Mal sah, «war sein Overall genauso dreckig wie bei allen anderen Arbeitern. Edison war nicht besser angezogen als ein Landstreicher. Aber es war mir sofort klar: Der hatte was.»
Edison war nicht das einsame Genie, sondern ein Chef, den man heute als Teamplayer bezeichnen würde.
John Kruesi zählte bald zu den engsten und produktivsten Mitarbeitern von Edison, unter anderem, weil er die schweizerische Tradition des exakten und kreativen Maschinenbaus einbrachte. «Kruesi war schweizerisch ausgebildet gemäss den besten Maximen schweizerischer Präzision. Ein ausgezeichneter Mechaniker mit energischem Charakter und einer wunderbaren Fähigkeit, ununterbrochen zu arbeiten und Arbeit aus den Männern herauszuholen», attestierte ihm ein ehemaliger Kollege. Diversität zahlte sich aus.
Wenn Edison etwas auszeichnete, dann auch dieses untrügliche Gespür für eine perfekte Mischung in seinem Team. Er brachte ganz unterschiedliche Talente zusammen. Ob Mechaniker oder Glasbläser, akademisch geschulte Ingenieure oder Selfmademan ohne jede formale Bildung – ob Herkunft, Alter oder Temperament: Edison nutzte die verschiedenen Perspektiven, Kenntnisse und Erfahrungen, die nur eine heterogene Gruppe von Menschen bieten kann.
Wer hats erfunden?
Der Landstreicher wurde mehrfacher Millionär und mit ihm seine Mitarbeiter. Kruesi war einer der wichtigsten – und bescheidensten. Eigentlich hatte er den ersten Phonographen erfunden, was Edison gar nicht bestritt, sondern sogar selber erzählte. Eines Tages sei er zu Kruesi gegangen und habe ihm eine Skizze auf die Werkbank gelegt. Kruesi fragte: «Was soll denn das werden?»
«Die Maschine muss sprechen können», entgegnete Edison. Kruesi machte sich an die Arbeit und tüftelte, pröbelte und bastelte zwei Tage lang, bis die Maschine gebaut war, die Edison vorgeschwebt hatte. Als Edison den Phonographen zum ersten Mal sah, drehte er die Kurbel und nahm einen Kinderreim auf:
Mary had a little lamb; Its fleece was white as snow;
And everywhere that Mary went, the lamb was sure to go.
1927 liess Edison, zu jenem Zeitpunkt schon ein alter Mann, den Vers noch einmal aufnehmen, da das Original von 1878 inzwischen verschollen war. Das Tondokument kann man heute noch anhören.
Das Wunder von Paris
Es begann die internationale Karriere eines Kinderreims. Die Faszination hielt an. 1889, als eine Weltausstellung in Paris stattfand, liess Edison den Phonographen ertönen. Die Schweizerische Bauzeitung, das wichtige Organ der Ingenieure und Techniker, berichtete:
«In der Ausstellung der Vereinigten Staaten von Nordamerika nimmt der grosse Erfinder Thomas Edison in New Jersey den grossen Platz von 675 m2 in Anspruch. Das lebensgrosse Porträt desselben ist umgeben von einer Sammlung von Beleuchtungsutensilien der verschiedensten Art, die abends zu allen möglichen Lichteffekten kombiniert werden. Eine grosse Anziehungskraft für das Publikum bieten Edisons Phonographen und es macht einen komischen Eindruck, wenn man die guten Leute beobachtet, wie sie viertel– und halbstundenlang an der Queue ausharren, um endlich die beiden Hörmündungen des Phonographen in die Ohren stecken zu können, um irgendeinem Musikstück zu lauschen oder eine Rede anzuhören, die im fernen Amerika gehalten wurde.»
Wer nun der Erfinder dieses Wunders war, ob Edison oder Kruesi, lässt sich heute nicht mehr so genau feststellen. Schon damals wusste niemand von Kruesi. Sein Porträt hing nicht im Pariser Ausstellungssaal. Der bescheidene Appenzeller, der im Waisenhaus aufgewachsen war, machte nie ein Aufheben davon, als kleiner Schweizer überliess er dem grossen Amerikaner den Vortritt, was den Weltruhm betraf. Edison war auch ein Genie des Marketings von sich selbst. Kruesi? Er war ein Schweizer.
Dafür wurde er reich und, so viel wir wissen, recht glücklich. Er heiratete in Amerika eine Thurgauer Apotheker-Tochter, die beiden hatten neun Kinder, die Familie blieb in Amerika. Aus Edisons Firma wurde General Electric, und Kruesi deren Generaldirektor und Oberingenieur. 1899 starb er, erst 56-jährig. Von seinem Vater erfuhr er nie, und vom Leben seiner Mutter ist nichts mehr bekannt.