Bereits vor fünf Jahren hat der schrullige Vogel schweizweit Schlagzeilen gemacht. Damals verirrte sich eine Waldrappdame namens Shorty an den Zugersee. Ähnlich erging es vier Jahre später ihren Artgenossen Domino und Hannibal, die sich kurzzeitig im Engadin und Tessin aufhielten. Geht es nach Biologen, sollen die Ibisvögel aber schon bald nicht nur versehentlich in die Schweiz gelangen, sondern sich langfristig hier niederlassen.
Noch im Mittelalter waren die gänsegrossen Vögel in Mitteleuropa weit verbreitet. Weil aber ihr Fleisch als Delikatesse galt, wurden sie von Adel und Klerus so lange gejagt, bis sie in Europa gänzlich ausgerottet waren. Heute ist das zerzauste Geschöpf eine der seltensten und gefährdetsten Vogelarten der Welt.
Der Österreicher Johannes Fritz ist Verhaltensbiologe und leitet das von der EU geförderte, millionenschwere Artenschutzprojekt «Life Northern Bald Ibis». Ziel des Projekts ist es, im Zoo geborene Waldrappe in freier Wildbahn wieder anzusiedeln.
Kompliziertes Lotsen
Dies ist jedoch ein kniffliges Unterfangen. Denn den Zugvögeln muss die Route in ihr Winterquartier beim ersten Flug gezeigt werden – anders als etwa Störchen, die den Weg gegen Süden selbstständig finden. Da die aus der Zucht stammenden Waldrappe keine Eltern haben, denen sie folgen können, weist das Team um Fritz den Jungvögeln mit einem extra dafür angefertigten Ultraleichtflugzeug den Weg in ihr Winterquartier. Die Route führt in etwa sieben Tagesetappen von Deutschland oder Österreich über die Alpen in die Toskana.
Aber nicht immer erreicht das drollige Fluggespann mühelos italienischen Boden. Diesen Herbst etwa attackierten zwei Adler den Vogelschwarm. «Da war das Chaos perfekt», erzählt der Österreicher Fritz. Denn die Vögel zerstreuten sich bei der Adlerattacke in alle Himmelsrichtungen. So konnten sich die Raubvögel zwar keinen einzigen Waldrapp schnappen, aber es dauerte einen ganzen Tag, bis Fritz alle Tiere wieder beisammenhatte.
Weitere Brutkolonien
Bis heute siedelte das Waldrapp-Team rund hundert Vögel in Deutschland und Österreich an. «Für einen nachhaltigen Bestand braucht es aber etwa 400 Waldrappe», schätzt Fritz. Deshalb plant er weitere Brutkolonien und sagt: «Nach unserer Einschätzung bietet das Schweizer Voralpenland für Waldrappe sehr gute Lebensbedingungen.» Denn dort gäbe es genügend offene Weiden und Wiesen, wo sich die Vögel ihre Mägen vollschlagen können – mit Würmern, Schnecken und kleinen Reptilien, die sie mit ihrem lang gebogenen Schnabel aus dem Boden picken. Auch landwirtschaftliche Schädlinge wie Schnecken sowie Larven von Maikäfern und Schnaken stehen auf ihrem Speiseplan.
Zurzeit eruieren die Artenschützer noch geeignete Brutplätze. Diese befinden sich idealerweise in Felsnischen, wo Waldrappe in Kolonien von bis zu hundert Tieren brüten. Bis es in der Schweiz so weit ist, dauert es aber noch einige Jahre: «Für die Wiederansiedlung benötigen wir noch Bewilligungen des Artenund Naturschutzes», sagt Fritz, «sowie für das Flugrecht.» Er hofft jedoch, dass erste Flüge mit Shortys Artgenossen hierzulande ab dem Jahr 2021 stattfinden können.