Welchen Weg zur Arbeit wählst du? Den schnellsten und direktesten? Welches Gericht wählst du in deinem Lieblingsrestaurant? Eines deiner drei Favoriten? Welches Restaurant wählst du überhaupt aus? Vielleicht eines, das Freund Google vorgeschlagen hat? Herzlichen Glückwunsch, du hast es dir in deiner persönlichen Filterblase so richtig schön gemütlich gemacht. Zum grossen Teil wird dein Leben von Algorithmen bestimmt, die deine Vorlieben kennen und dir ständig ähnliche Vorschläge unterbreiten. Wenn dir dieses Restaurant gefällt, könnte es dir auch dort schmecken, schlagen uns diverse Onlineportale zum Beispiel vor. Und was am Anfang wie eine Horizonterweiterung wirkt, kommt am Ende einer Einschränkung gleich.
Solche Algorithmen, die das Leben in Bahnen lenken, hat der US-Amerikaner Max Hawkins geschrieben. Er hat bereits für Google, Youtube und Apple gearbeitet. Aber damit ist Schluss. Er will nicht mehr. Nicht mehr die Filterblasen anderer Menschen durch Computerprogramme formen und seine eigene Zeit in einer Blase verbringen – auf gar keinen Fall.
Deshalb hat der 28-Jährige einen radikal anderen Algorithmus für sein Leben geschrieben: Sein Zufallsprogramm hat ihn zwei Jahre lang rund um den Globus an zufällig ausgewählte Orte geschickt, wo er jeweils einen Monat lang aus dem Homeoffice gearbeitet hat, um vier Wochen später seine Koffer wieder zu packen und weiterzujetten. «Davon mache ich momentan eine Pause», sagt Max Hawkins. Denn er fand es zunehmend schwierig, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, wenn das Umfeld sich ständig radikal geändert hat. «Momentan entscheidet der Computer aber noch, wo ich esse, was ich anziehe und mit wem ich spreche, ausserdem einige andere Dinge. Bald lasse ich mir ein zufällig ausgewähltes Tattoo stechen.» Damit er sich ja nicht von sich selbst beeinflussen lässt, bestellt Max Hawkins in den zufällig ausgewählten Restaurants stets das unbeliebteste Menü.
Herausfordernde Entscheidungen
Für Max Hawkins, der seinem eigens programmierten Zufallsgenerator seit rund drei Jahren folgt, ist diese Lebensweise die stimmigste. «Ich ändere ständig die Art und Weise, wie der Zufallsgenerator meine Entscheidungen trifft. So stelle ich sicher, dass ich nicht doch wieder in einen Kreislauf gerate», antwortet der Programmierer auf die Frage, ob der ständige Wechsel nicht doch auch eine Art Routine sei.
Natürlich funktioniert der Zufallsgenerator nur mit Einschränkungen. In Kriegsgebiete lässt sich Max Hawkins nicht schicken. Wann immer Lebensgefahr drohe oder der Vorschlag moralisch fragwürdig sei, gestehe er sich zu, dem Zufallsgenerator nicht zu folgen. Aber: «Wenn der Computer mir etwas aufträgt, das ich ablehne, hadere ich mit der Frage und versuche herauszufinden, ob meine Meinung tatsächlich gerechtfertigt ist.»
Kürzlich zum Beispiel habe der Computer ihm aufgetragen, ein Reh zu töten. Max Hawkins war verstört. Er wollte kein Tier töten. Doch er beschäftigte sich mit der Frage und erkannte, dass seine Ablehnung scheinheilig ist. «Ich bin kein Vegetarier», erklärt er. «Ich esse Fleisch, das von getöteten Tieren stammt, aber lehne die Vorstellung ab, selbst ein Tier zu töten.» Deshalb plant er im kommenden Winter einen Jagdausflug. «Wenn ich nicht schiessen kann, werde ich womöglich aufhören, Fleisch zu essen.»
«Wenn du deinem Computer die Kontrolle übergibst, realisierst du, dass es viele Wege gibt, das Leben zu leben.»
Natürlich, Max Hawkins kommt mit seiner Lebensweise immer wieder in ungewöhnliche Situationen, die ihn geradezu dazu auffordern, sich selbst zu hinterfragen, Neues kennenzulernen und die eigene Komfortzone zu verlassen. Aber mal ehrlich: Gibt er seine eigene Entscheidungskraft nicht genauso stark an den Zufallsgenerator ab wie wir alle sie an die gängigen Algorithmen abgeben? Lässt er sein Leben nicht sogar noch stärker fremdbestimmen, weil er seinem Computer sehr viele weichenstellende Entscheidungen überlässt? «Wenn du deinem Computer die Kontrolle übergibst, realisierst du, dass es viele Wege gibt, das Leben zu leben», entgegnet er. «Ich bin nicht auf einen einzigen Weg festgelegt.»
Er betont aber auch, dass es ja sein selbst programmierter Algorithmus ist, dem er folgt. Es ist ein persönliches Programm. Nichts, was die Allgemeinheit nutzen sollte. Denn sonst habe er ja eine Art Macht über andere Menschen. Er setzt sich nur Zufällen aus, die eine Maschine für ihn auswählt, die er selbst programmiert hat. «Den eigenen Algorithmen zu folgen ist ein Weg, den übrigen Algorithmen Kontrolle zu entreissen», sagt er. «Ich überlasse meinem Computer eine gewisse Autonomie über mich, aber ich gewinne dadurch Autonomie über mein Leben.»
Nur eine kann ihn stoppen
Das Ganze klingt ja durchaus interessant, aber abgesehen davon, dass man nicht zu unterschätzende Programmierkenntnisse bräuchte, um Hawkins’ Weg nachzuahmen, ist diese Lebensweise für die meisten Menschen wohl schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht machbar, oder? «Ich verdiene nicht allzu viel Geld», sagt Max Hawkins. «Aber ich habe das Privileg, dass ich an jedem Ort der Welt programmieren und Geld verdienen kann. Ich befürchte, das lässt meine Situation unerreichbar erscheinen.» Aber: «Viele Techniken, die ich nutze, um meine Routinen zu verändern, habe ich entwickelt, als ich einen normalen Bürojob hatte.»
Momentan kann sein Programm nur Kurzzeitentscheidungen fällen, zum Beispiel, wohin er reisen und wo er essen soll. «Ich träume davon, dass der Computer mir eines Tages sagt, ich soll alles stehen und liegen lassen und Klempner werden oder für fünf Jahre in eine bestimmte Stadt ziehen», wünscht sich Max Hawkins. Ja, es erscheint, als bekäme der Computer einen immer grösseren Einfluss auf sein Leben. Doch es gibt eine Person, die dem Programm den Stecker ziehen darf: «Ich sehe trotz allem meine Mutter jedes Jahr an Weihnachten», sagt Max Hawkins. «Egal, wohin der Zufallsgenerator mich schickt, sie hat die Vetotaste.»