Laurent Jospin hat eine Vision: Mit Solarzellen überdachte Autobahnen im Wallis. Der Standort sei perfekt für das Pilotprojekt, sagt der Chef des Start-ups Energypier. Schliesslich ist das Wallis mit seinen Weinterrassen und Obstgärten eine der sonnenreichsten Regionen der Schweiz.
«Ich befürchte, dass wir auf einen echten Klimanotstand zusteuern», begründet er seine Initiative. «Wir sind gar nicht auf Kurs. Ich fühle, dass ich etwas für meine Kinder und die nächste Generation tun muss.»
Konkret will der Unternehmer auf einem 1,6 Kilometer langen Abschnitt der Autobahn A9 bei Fully in der Nähe von Martigny 47 000 Solarzellen auf Metallkonstruktionen installieren. Sie sollen Strom für 12 000 Haushalte generieren. Er plant zudem ein ähnliches Projekt auf 2,5 Kilometern Autobahn bei Zürich – dort würde jährlich Strom für 20 000 Haushalte entstehen. In einer zweiten Phase sollen kleine Windkraftanlagen neben den Bauwerken installiert werden, um das grüne Energiepotenzial noch zu erhöhen.
Jospin ist überzeugt, dass seine Projekte skalierbar sind, also im ganzen Land umgesetzt werden könnten.
Hohe Ziele
Dass etwas getan werden muss, um die Energiewende zu schaffen, ist klar. Nur so kann die Schweiz ihr Ziel erreichen: Das Land hat sich im Rahmen des Pariser Klimaübereinkommens verpflichtet, bis 2030 ihren Treibhausgasausstoss zu halbieren und ab 2050 unter dem Strich keine Treibhausgasemissionen mehr zu produzieren. Die Solarenergie ist eine der wichtigsten Säulen dieser Strategie. Die erneuerbaren Energien sollen die wachsende Nachfrage nach Strom decken, da die Kernkraftwerke stillgelegt werden. Die Behörden wollen bis 2050 jährlich 34 Terawattstunden (TWh) Strom aus Sonnenenergie erzeugen (2020 wurden 2,6 TWh erzeugt). Doch die Umsetzung von Solarprojekten ist leichter gesagt als getan.
Jospin, der das junge Start-up mit zehn Mitarbeitenden leitet, kämpft seit über zwölf Jahren um die Verwirklichung seines Traums. Sein Autobahnprojekt stösst aber auf endlose administrative Hürden und Fragen von kommunalen, kantonalen und eidgenössischen Behörden. «Es ist ziemlich komplex – der übliche Schweizer Verwaltungskuchen», sagt er.
2018 bewilligte das Bundesamt für Strassen (Astra) grundsätzlich die Nutzung der Autobahn für Solarprojekte. Trotzdem könnten noch Jahre vergehen, bis Jospins Vision Realität wird.
«Die Behörden zeigten Interesse, aber sie sind stets besorgt, wenn etwas über den Strassen gebaut werden soll», erklärt er. Konkret fürchtet das Astra, dass die Panels oder Teile der Strukturen auf Autos fallen oder die Fahrer ablenken könnten.
Die Installation von Solarmodulen auf bestehenden Hausdächern und -fassaden in der Schweiz bietet mehr als genug Potenzial, um den wachsenden Bedarf an Solarenergie zu decken – zumindest auf dem Papier. Sie könnten fünfzig TWh bzw. 17 TWh liefern, wie das Bundesamt für Energie errechnet hat. Der Bundesrat betonte aber, dass «ergänzende» Optionen wie Kollektoren auf Autobahnen erforderlich seien. Deshalb erklärte er sich auch bereit, privaten Unternehmen wie Energypier die Strassen-Infrastruktur kostenlos zur Verfügung zu stellen.
Mühsame Finanzierung
Während viele der anfänglichen Hindernisse Sicherheits- und Rechtsfragen betrafen, war es für Jospin vor allem auch schwierig, Investoren für sein Fünfzig-Millionen-Franken-Projekt zu finden. Doch inzwischen stehe das Unternehmen in Verhandlungen über einen grossen Finanzierungsvertrag, sagt er.
Allerdings muss das Projekt noch in den kantonalen Richtplan aufgenommen werden, zudem braucht er eine Baubewilligung. Die Bauarbeiten könnten theoretisch im kommenden Herbst beginnen und Ende 2023 abgeschlossen sein.
Andernorts in Europa, den Niederlanden, Belgien, Deutschland und Spanien, sind ähnliche Projekte in der Pipeline. Und in Frankreich und den USA wurden bereits photovoltaische Strassenbeläge erprobt.
Lärmschutzwände als weitere Option
Nicht nur über, sondern auch entlang der Autobahnen sollen dereinst Solarzellen installiert werden. So hat die Schweiz beschlossen, die Gesetzgebung anzupassen, um die Anbringung von Panels an Lärmschutzwänden entlang von Autobahnen und Bahnlinien zu fördern. Theoretisch könnten so hundert Gigawattstunden (GWh) Strom pro Jahr erzeugt werden – 55 GWh von Strassen und 46 GWh von Eisenbahnlinien. Damit könnten Tausende von Haushalten versorgt werden.
In der Schweiz gibt es bereits zehn solcher Anlagen entlang der Autobahnen, und auch in einigen anderen Ländern gibt es sie (siehe Grafik unten). Ein neues Projekt ist zudem in der Nähe von Locarno in Planung.
Die Idee der Lärmschutzwände klingt vielversprechend, doch in der dicht besiedelten Schweiz ergeben sich zahlreiche Hürden.
Wie der Bundesrat in einem aktuellen Bericht festhält, entspricht das nutzbare Potenzial solcher Wände nur 0,15 Prozent des schweizweiten Potenzials von Dächern und Fassaden.
Sicherheitsvorschriften regeln streng, wo solche Anlagen errichtet werden dürfen. Solare Lärmschutzwände sind aufgrund zusätzlicher Studien und Verfahren 30 000 Franken teurer als herkömmliche Anlagen. Wenn sie nicht richtig ausgerichtet sind, können die Panels den Lärm von Fahrzeugen eher reflektieren als absorbieren. Zudem sind die Paneele anfällig für Diebstahl und Vandalismus und werden von Naturschutzverbänden oft kritisiert.
Trotz dieser Schwierigkeiten ist Jean-Louis Scartezzini, Solarenergieexperte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL), der Meinung, dass solche Projekte weiterverfolgt werden sollten.
«Wir müssen alle verfügbaren Flächen auf intelligente Weise nutzen, sei es nun die Autobahn oder die Bahnlinie», sagt er. Er weist darauf hin, dass die ersten Lärmschutzwände mit Sonnenkollektoren 1989 im Kanton Graubünden aufgestellt wurden und dass es keinen Grund gibt, diese Idee nicht mit moderner Technologie wieder aufzugreifen.
Innovativ, aber kompliziert
Die Schweiz ist eines der innovativsten Länder im Bereich der Solarenergie. Davon zeugen Forschungsinstitute und bahnbrechende Projekte wie die «Solar Impulse». Aber die Sonnenenergie hat es schwer, sich auf nationaler Ebene durchzusetzen, und die Schweiz hinkt den meisten europäischen Staaten hinterher. Letztes Jahr wurden zwar im Vergleich zu 2019 fast fünfzig Prozent mehr Solarpanels aufgestellt, aber die 100 000 Anlagen decken nur 4,7 Prozent des gesamten Energieverbrauchs des Landes. Der Branchenverband Swissolar erklärte im Juli, dass die Zahl der Anlagen um das 15-fache steigen müsse, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.
Die Bundesbehörden betonen, dass sie viel tun, insbesondere durch Gesetzesanpassungen. Die Regierung hat dieses Jahr 470 Millionen Franken zur Verfügung gestellt, um kleine und grosse Solaranlagen zu fördern, und kündigte an, dass Verfahren vereinfacht werden sollen. In diesem Jahr sollen Änderungen im Schweizer Energiegesetz die Zahlen in die Höhe treiben.
Scartezzini ist der aber der Meinung, dass die staatliche Förderung von Solarprojekten noch immer harzt. «Es wird versucht, Wege zu finden, um den Trend zu beschleunigen», sagt er. «Aber es ist eine Frage der Prioritäten.»
Er glaubt, dass die Hälfte der Solarenergie, welche die Schweiz bis 2050 generieren muss, mit nur zwei Prozent der Flachdächer erreicht werden könnte, wenn der Bau effektiv umgesetzt würde.
Eine Frage der Lebensdauer
Günstigere, leistungsfähigere Batterien für die Speicherung von Ökostrom zu Hause sollten nach Ansicht der Behörden auch mehr Menschen dazu bewegen, Sonnenkollektoren für ihren eigenen Strombedarf zu installieren.
Dies kann für private Hausbesitzer und Unternehmen funktionieren. Berichten zufolge arbeiten grosse Unternehmen an Strategien, um grossflächig Sonnenkollektoren auf neuen Gebäuden zu installieren. Aber die Anbringung auf alten Gebäuden und Wohnungen, die ebenfalls renoviert werden müssen, ist komplex.
Für Laurent Jospin ist die Vorstellung, dass Kollektoren auf Gebäudedächern die Frage der Energieversorgung lösen werden, illusorisch. «Kaum jemand will eine Solaranlage, die eine Lebensdauer von dreissig Jahren hat, auf einem Dach installieren, das eine Lebensdauer von 15 Jahren hat», sagt er.
In dieser Hinsicht sei die Schweizer Bevölkerung konservativer und vorsichtiger als ihre europäischen Nachbarn. «Ja, wir können mehr Kollektoren auf Dächern von Wohnungen, Supermärkten und Gebäuden anbringen, aber das wird nicht ausreichen, um die Energieziele zu erreichen», sagt der Unternehmer.
Er ist überzeugt, dass sein System der Solarautobahnen die Lösung ist. «Wenn wir die verbleibenden Hürden geschafft haben und demonstrieren können, wie alles funktioniert, wird es viel schneller gehen», sagt er.
Je nach Erfolg der Pilotprojekte schätzt er, dass seine Solaranlagen in Verbindung mit kleinen Windkraftanlagen auf hundert bis 700 Kilometer Schweizer Autobahnen installiert werden könnten. Alles zusammen würde jährlich zwischen 2,45 TWh und 25,48 TWh grünen Strom erzeugen.