Benedikt Meyer
Benedikt Meyer ist Historiker und Autor. Mit «Im Flug» hat er die erste wissenschaftliche Geschichte der Schweizer Luftfahrt geschrieben, mit «Nach Ohio» seinen ersten Roman veröffentlicht. Bei higgs erzählt er in der «Zeitreise» jeden Sonntag Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catherine Reponds tragischem Ende und von Henri Dunant bis zu Iris von Roten.
Die Geschichte liebt die Ironie. Ausgerechnet im gemütlich klingenden «Haus zum Sessel» logierte der unbequemste Geist seiner Zeit: Erasmus von Rotterdam. Dass er nach Basel gekommen war, lag an Johannes Froben, dessen Druckerei sich im selben Haus befand. Nicht überall gab es so gutes Papier, nicht überall einen so berühmten Drucker wie Froben.
Auch Erasmus liebte die Ironie – aus Sicherheitsgründen. Seine pikanten Ideen hüllte er in den Mantel der Satire – etwa in seinem triefend ironischen Werk «Lob der Torheit». Erasmus’ mit Abstand kühnster Wurf aber waren die Zeilen, die Frobens Druckerei 1516 verliessen: die neue Bibel. Ein Buch, das eine Operation am offenen Herzen der Kirche war. Und eine unerhörte Dreistigkeit. Seit 382 galt die Version des Hieronymus als unverrückbares Wort Gottes. Jetzt kam Erasmus und warf sie über den Haufen.
Die Kirche sollte besser werden, fand der Gelehrte: echter, ehrlicher, näher an dem, was Jesus gemeint hatte. Und ausserdem weniger autoritär. Die Kirche verbot den einfachen Leuten das Lesen in der Bibel, Erasmus rief sie dazu auf. Jeder, forderte er, sollte sich kritisch mit dem Buch der Bücher befassen. So würden nicht nur die vielen Fehler der alten Bibel offensichtlich, es würde auch klar, dass darin nichts stand vom Mönchtum oder dem Zölibat, nichts vom Ablasshandel und nichts über einen Papst. Erasmus suchte nichts weniger als eine Reform der Kirche.
Der Niederländer schrieb permanent. Er korrespondierte mit Thomas Morus, mit Papst Leo, mit Martin Luther. Als Luther die Bibel ins Deutsche übersetzte, stützte er sich auf den in Basel gedruckten Text. Zwingli bot Erasmus das Zürcher Bürgerrecht an. Aber trotz vieler Gemeinsamkeiten gingen Erasmus die Forderungen der Reformatoren zu weit. Er war sich sicher, dass der offene Bruch mit dem Vatikan über kurz oder lang zu Religionskriegen führen musste. Und das war dem Pazifisten Erasmus der Streit um den Glauben nicht wert.
Zuletzt überrollte ihn der Wandel, den er angestossen hatte. Als in Basel die Reformation durchgesetzt wurde, ging er nach Freiburg (im Breisgau). Er kam erst kurz vor seinem Tod zurück. Dass er – als katholischer Mönch – im nun reformierten Basler Münster ein Ehrengrab erhielt, illustriert seinen Status. Und à la longue behielt er Recht. Was heute in reformierten Kirchen gelehrt wird, ist in vielen Fragen näher bei Erasmus als bei Luther.