Das musst du wissen

  • Carol Robinson ist eine der erfolgreichsten Chemikerinnen Grossbritanniens.
  • Sie erzielte seit den 1980er-Jahren bahnbrechende Erkenntnisse in der Massenspektroskopie.
  • Sie ging als die erste Professorin für Chemie an den Universitäten Oxford und Cambridge in die britische Geschichte ein.

Als Carol Robinson 16 Jahre alt war, kehrte sie der Schule den Rücken zu. Dass die Britin einmal eine der erfolgreichsten Chemikerinnen ihres Landes werden, ja, einen Orden der Queen erhalten würde, das hätte damals niemand gedacht. Am allerwenigsten sie selbst.

«Mein Vater dachte sich, wenn ich anständig tippen kann, ist das schon eine gute Ausbildung», sagt Robinson. Die Britin wirkt etwas müde, ihr Flug sei heute sehr früh am Morgen gestartet, sagt sie. Während sie sich an ihre Anfänge erinnert, trinkt sie Tee, hier, in einem Büro auf dem Campus Irchel der Universität Zürich, wo sie am nächsten Tag einen Vortrag hält und wo wir sie treffen. Längst ist «Dame Carol» – der Titel «Dame» muss vor ihrem Vornamen stehen, so will es die Etikette der britischen Krone – eine anerkannte Pionierin in der Massenspektrometrie. Das ist eine Analysetechnik, mit der sich die Masse eines chemischen Moleküls sowie seiner Bausteine bestimmen lässt. Lange Zeit wurde die Methode ausschliesslich benutzt, um die Bestandteile eines Gemischs aufzuschlüsseln oder zu ermitteln, ob eine Substanz Verunreinigungen aufweist. Doch dank Robinson ist die Massenspektrometrie heute viel mehr: Die Chemieprofessorin war eine der ersten, die damit grössere Biomoleküle wie Proteine analysierte. Damit machte sie die Methode fit für die Verwendung in der Medikamentenentwicklung. Etwas, das viele ihrer Kollegen zuvor für unmöglich gehalten hatten.

Karriere mit Hindernissen

All dies wäre nicht geschehen, wenn die junge Robinson nach ihrem Schulabgang nicht zufällig bei der Pharmafirma Pfizer gelandet wäre. Und zwar als Labortechnikerin. Sie wurde ans Massenspektrometer gesetzt – und fand so ihre Berufung. Mehrere Jahre vermass sie kleine chemische Moleküle. Doch das reichte ihr nicht: Bald fing sie an, berufsbegleitend Abendkurse an einer Fachhochschule zu besuchen. Sie lernte am Abend, in der Nacht, am Wochenende – und schaffte das Chemiestudium in sieben Jahren. Danach ging sie für die Doktorarbeit an die Universität Cambridge. In der Rekordzeit von zwei Jahren hatte sie ihren Doktor.

zVg

Zufälligerweise wurde die 16-jährige Robinson bei Pfizer an ein Massenspektrometer gesetzt. Diese Analysetechnik liess sie seitdem nicht mehr los.

Ausserhalb des Systems

Danach tat Carol Robinson etwas, das eine normale Forscherkarriere für immer beendet hätte: Sie machte acht Jahre lang Pause, um ihre drei Kinder grosszuziehen. «Unmöglich, von da zurückzukommen, würden alle sagen», kommentiert sie. Dennoch ergatterte sie danach eine Position an der Universität Oxford, wo sie vor allem Proben für andere Wissenschaftler messen sollte. Aus Faszination für die Massenspektroskopie handelte sie sich aber einen freien Forschungstag pro Woche aus. Dieser eine Wochentag sollte genügen, um ihr Forschungsfeld umzukrempeln.

«Unmöglich, von einer 8-jährigen Kinderpause zurückzukommen, würden alle sagen.»Carol Robinson

Ihre langjährige Abwesenheit erwies sich nun als Vorteil: Sie dachte nicht innerhalb derselben Grenzen wie ihre Kollegen. Und da sie ohnehin niemand auf dem Radar hatte, beschloss Robinson, ganz etwas Neues zu versuchen. Während ihrer Abwesenheit waren zwei Dinge passiert: Die ersten Vorläufer des Internets waren erfunden und – für Robinson wichtiger – zwei neue Methoden, Moleküle ins Massenspektrometer zu bringen, waren entwickelt worden. Mit diesen war es erstmals möglich, auch grössere Biomoleküle wie Proteine im Massenspektrometer zu analysieren. Dazu sind zwei Dinge nötig: Die Proteine werden erstens ionisiert, das heisst, sie bekommen eine elektrische Ladung. Diese ist nötig, damit die Substanzen im Massenspektrometer sichtbar werden. Zweitens kommen sie in der Maschine von einer wässrigen Lösung in die Gasphase. Das heisst, die Proteinmoleküle fliegen als Gas durch das Analysegerät.

Nun kann man mit Proteinen in einem Massenspektrometer dasselbe machen wie mit kleinen Molekülen, nämlich kontrollieren, ob man wirklich das gewollte Protein in den Händen hält und wie sauber es ist. Oder man kann kreativ werden, wie Robinson. Sie fing an, die Faltung von Proteinen im Massenspektrometer zu untersuchen. Proteine falten sich bei ihrer Herstellung in den Zellen in eine dreidimensionale Struktur, die essentiell für ihre Funktion ist: Durch diese docken sie gezielt an Moleküle an, bringen Reaktionspartner zusammen oder aktivieren und deaktivieren Substanzen. Wie genau das passiert, und was diesen Faltungsprozess beeinflusst, gehörte damals zu den grossen offenen Fragen in der Biochemie.

Gegen die Zweifler

Robinson überlegte sich also eine Methode, wie sie die Faltung im Massenspektrometer untersuchen konnte – und schaffte es schliesslich, sichtbar zu machen, ob ein Protein gefaltet, teilweise gefaltet oder ungeordnet war. Wichtiger aber: Mit ihren Freitagsversuchen zeigte die Forscherin zum ersten Mal überhaupt, dass man im Massenspektrometer funktionsfähige Proteine untersuchen konnte – obschon sie als Gas vorliegen.

«Ich hatte manchmal das Gefühl, dass man mir nie glauben würde.»Carol Robinson

Robinsons Resultate erstaunten ihr Forschungsfeld und brachten ihr viel Aufmerksamkeit ein – aber auch Widerstand. Viele ihrer Kollegen konnten damals kaum glauben, dass Proteine auch in der Gasphase ihre funktionale Struktur behalten können. «Bekannte Massenspektrometrie-Spezialisten fanden die Idee, so grosse Proteinkomplexe in die Gasphase zu bringen, komplett verrückt», sagt Robinson. «Das war hart», sagt sie noch heute, an die 30 Jahre später. Sie giesst sich eine weitere Tasse Tee ein und lehnt sich im Stuhl zurück, schüttelt leicht den Kopf. «Ich hatte manchmal das Gefühl, dass man mir nie glauben würde.»

Dennoch hat sich Robinson nicht unterkriegen lassen. Dabei ist sie leise geblieben und zurückhaltend. Wirklich selbstsicher wirkt die Professorin nicht, aber sie muss es sein. Sonst hätte sie längst aufgegeben. Durch ihre Experimente aber wusste sie, dass sie im Recht war. Dass die Methode mit Proteinen funktioniert und dass sie darauf aufbauen kann.

Also forschte sie weiter. Sie untersuchte immer grössere und komplexere Proteine und Zusammenschlüsse von Proteinen, schliesslich sogar Membranproteine. Diese Moleküle aus der Zellmembran sind im Labor chronisch schwierig zu handhaben, aber wichtig in der Medizin: Sie steuern essentielle physiologische Prozesse und sind deshalb Angriffspunkt vieler Medikamente. Mit immer neuen spektakulären wissenschaftlichen Erfolgen brachte Robinson die Zweifler langsam zum Verstummen.

Mittlerweile ist die Massenspektrometrie dank Carol Robinsons Beharrlichkeit und Mut zu einer Methode geworden, die in der Medikamentenentwicklung einen festen Platz hat. Und Robinson ist zum Olymp der Wissenschaft aufgestiegen: Sie war die erste weibliche Chemieprofessorin an der Universität Oxford und später auch an der Universität Cambridge. Inzwischen ist sie Präsidentin der Royal Society of Chemistry, hat 22 Awards gewonnen und ist Trägerin von 11 Ehrentiteln von Universitäten weltweit. Weder ihr ungewöhnlicher Bildungsweg noch ihre Mutterschaftspause und auch nicht ihre Kritiker konnten ihrer Leidenschaft für gute Arbeit etwas anhaben.

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