Gabriela Manser ist eine der bekanntesten Unternehmerinnen der Schweiz. Sie ist CEO und Haupteigentümerin der Firma Goba, welche «Flauder», «Appenzell Mineral» und weitere Limonaden herstellt. Über sie wurden unzählige Medienberichte verfasst. Die Appenzellerin selbst schwärmt aber für Märchen: Sie liest sie zum Einschlafen, erzählt sie liebend gern und hat sogar schon selbst welche geschrieben. Deshalb wollen wir hier ihre Lebensgeschichte als Märchen erzählen. Die Fakten stimmen – wo die Autorin märchenhafte Momente dazu gedichtet hat, sind sie kursiv ausgezeichnet.

Goldschöfpchen und die Gwunderschatulle

Es war einmal, im Jahr 1962, hinter den sieben Bergen, bei den siebentausend Kühen im Appenzellerland, da wurde ein Mädchen geboren. Seine Haare waren so golden wie die Disteln hoch oben auf der Alp. So nannte man das Mädchen «Goldschöpfchen», obwohl es eigentlich Gabriela getauft worden war. Es besass eine Schatulle mit tausend Schubladen. Einige gingen auf, andere nicht. Immer wieder öffnete sich eine neue und darin fand das Mädchen eine neue Gabe. Es war eine Zauberschatulle. Die Schubladen öffnen konnte nur ein Mädchen so gwunderig wie Goldschöpfchen. Denn die Neugier war es, die die Schubladen aufzuziehen vermochte.

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Gabriela Manser ca. 1967.

Goldschöpfchen war verträumter und verspielter als ihre Schwester. Sie konnte nicht gut lesen und hatte in der Schule schlechte Noten. Sie ass kein Fleisch, das hatte sie von ihrer Mutter so gelernt – obschon diese Tochter eines Metzgers war. Das Mädchen wuchs heran und wurde schliesslich zu einer jungen Frau. Der Vater liebte seine Tochter sehr, legte seine Stirn aber oft in Falten, wenn er an ihre Zukunft dachte. Eines Abends rief er seine Tochter zu sich. «Du sollst es einmal gut haben im Leben», sagte er. «Du wirst bei mir eine kaufmännische Lehre machen, damit dir dein Lebensweg leichter fällt.»

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Bad und Kurhaus Gontenbad um 1922.

So begann Gabriela ihre Ausbildung im Geschäft des Vaters – einer Mineralquelle in Gontenbad. Er selbst hatte den Betrieb von seinem Schwiegervater Josef Schmidiger übernommen. Die Quelle entspringt auch heute noch tief im Boden am Rande des Gontner Hochmoors, umgeben von sanften Hügeln, dahinter das Alpsteinmassiv. Mineralwasser in gläserne Flaschen abzufüllen, hatte der Schwiegervater im Jahre 1930 begonnen. Denn das Wasser war über Jahrzehnte durch den Alpstein gesickert und sprudelte so klar aus der Quelle, dass mancher meinte, Edelsteine würden daraus gemacht. Das Wasser war rein und mineralisiert. Und so entstand das Geschäft der Familie Manser. Goldschöpfchen und ihre Schwester waren zwischen Kisten voll Flaschen und köstlicher Getränke gross geworden.

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Alter Saurer Lastwagen um ca. 1950.

Und so liess der Vater Goldschöpfchen im Alter von fünfzehn Jahren die kaufmännischen Tugenden lehren. Guter Dinge ging die junge Frau an die Arbeit. Wo sie mit Zahlen hantieren musste, ging das Tagewerk leicht. Wo sie aber lesen musste, plagten sie die Buchstaben: Im Geiste der jungen Frau sprangen sie ungeordnet umher. Manch einer dachte, Goldschöpfchen sei ein Dummchen. Eines Tages geschah es, dass eine Lehrerin zu ihm kam und sagte: «Hat dich den nie jemand gelehrt, wie man lernt?» Goldschöpfchen schüttelte den Kopf. «Du bist nicht dumm», sagte die Lehrerin. «Das ist bloss eine Leseschwäche.»

Da fiel dem Mädchen ein Stein vom Herzen. Es rannte heim, kramte hastig die Schatulle hervor und fand eine neue offene Schublade. Darin lagen Bücher über Bücher. Das Mädchen dachte nach und wusste plötzlich, dass ihr nun ihm Leben viele Wege offenstanden. Sie wollte Kindergärtnerin werden. Sie selber hatte den Kindergarten nie besucht, da es in dem kleinen Örtchen Gonten, wo sie wohnte, keinen solchen gab. Ein Kindergarten, ein Garten voller Kinder, das war für sie aber eine schöne Vorstellung.

Und so packte Gabriela ihr Bündel und machte sich auf nach Amriswil. Dort fand sie genau den richtigen Lern-Ort um dieses Handwerk zu erlernen. Sie liebte die Arbeit mit den Kindern und bald schon übernahm sie einen Kindergarten. Auch im Kinderspital betreute sie die kleinen Patienten. Schliesslich übernahm sie die Schulleitung von 50 Kindergärtnerinnen der Stadt St. Gallen und wurde zur geschätzten Beraterin. So führte sie 17 Jahre lang ein glückliches Leben.

Anders erging es ihren Eltern mit ihrem Mineralwasser-Geschäft: Die Maschinen wurden alt und ächzten unter der Last, vieles sollte erneuert werden. Das Geldkässeli war leer und der Vater, mittlerweile 70 Jahre alt und ergraut, hatte auch nicht mehr so viel Energie. Er hielt Ausschau nach jemandem, der das kostbare Wasser schätzen und den Betrieb übernehmen würde. Es meldeten sich aber nur Interessenten, welche das Mineralwasser abzapfen wollten, ohne die Firma weiterzuführen. Niemand glaubte an sein Lebenswerk und niemand dachte an die Bediensteten der Quelle. Zehn Jahre war es bereits her, seit der Vater seinen beiden Töchtern die Nachfolge angeboten hatte. Beide hatten dankend abgelehnt. Der Vater war ratlos.

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Grossvater Schmidiger ca. 1930.

Und dann ging eines Tages eine weitere Schublade in Goldschöpfchens Schatulle auf: Noch bevor sie diese ganz geöffnet hatte, schwappte Mineralwasser hinaus, frischer und wohlschmeckender, als sie es je gekostet hatte. In diesem Moment wusste Goldschöpfchen: Sie wollte es wagen. Sie wollte das Erbe der Familie weiterführen. «Wir haben die Verpflichtung dafür zu sorgen, dass das Glück uns treffen kann», so glaubt sie auch heute noch fest.

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In diesen zehn Jahren, seit sie dem Vater die Bitte abgeschlagen hatte, das Geschäft zu übernehmen, hatte Gabriela viel dazu gelernt, hatte als Pädagogin gewirkt und sich weitergebildet. Sie hatte in dieser Zeit erfahren, was es hiess, Menschen durch die stürmischen Fluten des Lebens zu führen. Sie wusste, wie man Menschen anleitet, anfeuert und manchmal auch tröstet. Sie wusste um die Wichtigkeit eines guten Herzens. «Wenn jemand es fertigbringt, eine Schar von 25 Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren dazu zu bringen, während zwanzig Minuten alle gemeinsam an etwas zu arbeiten», so sagte sie sich, «dann kann diese Person auch Erwachsene führen.»

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Josef Schmidinger ca. 1935.

So nahm Goldschöpfchen Gabriela also allen Mut zusammen und eröffnete dem Vater ihren Wunsch: «Lass mich dein Lebenswerk fortführen», sagte sie. Als der Vater dies hörte, floss eine einzige leuchtende Träne der Erleichterung über seine Wangen.

So wurde Goldschöpfchen im Jahre 1999 im Alter von 37 Jahren zur Meisterin des Geschäfts Goba. Sie übernahm ein Rucksäckli mit Schulden – und acht treue Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die sie niemals als Bedienstete behandelte. Es waren ihre Freunde, welche ihr halfen und sie unterstützten. Zu Beginn aber war es Goldschöpfchen, die ihren Mitstreitern Löcher in den Bauch fragte. Sie wusste ja noch nicht, was Mineralwasser so delikat macht, wie sich die Zahlen eines Unternehmens zähmen lassen oder wie neue Köstlichkeiten gezaubert werden. «Als Frau durfte ich fragen», würde sie sich später erinnern.

Doch so herzlich Goldschöpfchen im Geschäft ihres Vaters empfangen wurde, so kritisch beobachteten sie einige Augen. Einige fragten sich: Ja kann sie das? Diese Frage stellte sich Goldschöpfchen auch selbst. Und sie wusste die Antwort noch nicht.

Eines aber wusste sie: Sollte das Geschäft gerettet werden, konnte kein Stein auf dem anderen bleiben. Und das brauchte noch andere Hände und Köpfe. So machte sie mit ihrer Belegschaft aus einem Mineralwasser drei – «still», «leise», «laut» – und liess neue Etiketten kreieren, schlicht und luftig. Der moderne Geist wehte nun, moderne Maschinen und Computer mussten her, die Abfüllanlage musste modernisiert und die ganze Produktion vergrössert werden. Tag und Nacht arbeitete man in Gontenbad. Goldschöpfchen wusste, wo die Zukunft lag, wohin sie mit dem Familienbetrieb steuern musste. Aber wie genügend Wind heraufbeschwören?

Von Neugier getrieben, packte Goldschöpfchen seinen Rucksack, schnürte die Wanderschuhe und zog über Berg und Tal, um die Wirtinnen und Wirte des Appenzellerlandes auszufragen. Sie wollte herausfinden, was ihre Kunden am meisten brauchten. Auf ihrer Wanderschaft hatte Goldschöpfchen ihre Schatulle stets dabei. Und plötzlich öffnete sich eine weitere Schublade: Darin lag ein Tropfen kostbaren Nektars – ein Sirup aus Holunderblüten, den ihre Grossmutter immer gebraut hatte. Und Gabriela erkannte, dass hierin das Gold lag, welches das Vermächtnis des Vaters retten würde. In dem Moment flog ein Schmetterling herbei, ein Flickflauder, wie man im Appenzellerland sagt, und landete auf dem Tropfen, um sich satt zu trinken. Da wusste Goldschöpfchen, was zu tun war: Ein neues Getränk würde den Weg ab 2002 ins neue Jahrtausend weisen. Das Getränk war leicht wie ein Schmetterling. Und das Tier lieh ihm auch den Namen: «Flauder».

Goldschöpfchen begann bei Alchemisten nach der richtigen Rezeptur nachzuforschen – den Lebensmitteltechnologen, wie man heute sagt. Diese lieferten Müsterchen um Müsterchen, aber kein Geschmack wollte Goldschöpfchen munden.

Nachdem sie wieder einmal einen neuen Geschmack, Melisse, probiert und den Kopf geschüttelt hatte, goss sie Melissentrunk und Holundertrunk zusammen, um beide endgültig in die Gosse zu schütten. Doch zuvor nippte sie noch an dem Gemisch. Und da öffnete sich wieder eine Schublade in ihrer Schatulle. Es enthielt die Rezeptur für das neue Getränk.

Goldschöpfchen liebte den neu geschaffenen Trunk so sehr, dass sie ihn dem Feenland entsprungen glaubte. Wenn sie von dem Getränk sprach, ging es stets um ein Märchen. Denn, obwohl Goldschöpfchen nun kein Mädchen mehr war, hatte sie sich ihre Faszination für Märchen bewahrt. Suchte sie vergeblich nach Schlaf, dann schlug sie immer ein Märchenbuch auf. «Märchen sind Nahrung für die Seele, auch für Erwachsene», sagt sie. Sie griff sogar selber zur Feder und erfand fantastische Geschichten. «Märchen sind nicht nur etwas für Kinder. Sie spiegeln eine Sehnsucht wider und erlauben auch Erwachsenen eine Reise in ihr Inneres», so glaubt sie. «Die Realität alleine ist wenig inspirierend. Es braucht kleine Fensterli, durch die man innerlich weghuschen kann und mehr sehen, als gerade da ist.» Kein Wunder, ist auch heute noch – im Alter von 58 Jahren – eines ihrer Vorbilder die fantastische Figur Pippi Langstrumpf.

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Gabriela Manser heute.

Goldschöpfchen holte die Märchenwelt gar in die hiesige: Mitten im Appenzellerland eröffnete sie mit zwei Kräuterfrauen die «Flauderei», ein Ladengeschäft, in dem es zwitschert und duftet. Für sie ist es ein Sehnsuchtsort, der ihr am Herzen liegt. Und in der Manufaktur wird wie in alten Zeiten Kräutersirup mit Zutaten aus dem Garten gebraut.

«Flauder» bescherte Goldschöpfchen langanhaltenden Erfolg. Die erworbenen Reichtümer flossen in das Geschäft, stets gab es etwas zu modernisieren. Ihr Vater hatte einst zwei Millionen Fläschchen verkauft, im Jahre 2019 brachte sie fast 20 Millionen unters Volk. «Flauder» wurde im ganzen Land bekannt. Das Unternehmen hatte nun ein halbes Hundert Mitstreiter.

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Gontenbad 2019.

Fortan wurde Goldschöpfchen hofiert, von Kaufmännern, Königinnen und Schreiberlingen. Einem Orden gleich wurde ihr 2005 der Prix Veuve Cliquot verliehen, eine ehrenvolle Auszeichnung für Kauffrauen. Goldschöpfchen wurde gar Präsidentin der Kaufmännergilde, der Industrie- und Handelskammer Appenzell Innerrhoden, ist heute im Vorstand der Industrie- und Handelskammer St. Gallen-Appenzell und ehrenhaftes Mitglied in so manchen Verwaltungsräten.

Die Farben gingen ihr während ihres Älterwerdens nicht verloren: Ihre Notizen sind stets kunterbunt. Sie schaut mit grossen Augen durch kreisrunde Brillengläser, hat blonde, vorwitzig aufstehende Haare, trägt gerne Turnschuhe und redet stets so, als erzähle sie ein Märchen. Das Hauptquartier ihrer Quelle liess sie 2017 neu bauen. Ihr «Denkhaus» – wie sie es nennt – ist hell und aus Holz und mit riesigen Filzblumen darin, Filzskulpturen grösser als Menschen. Gebimmel vom nahen Bahnübergang begleitet sie den ganzen Tag.

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Gontenbad (Denkhaus) 2019.

Goldschöpfchens treuste Begleiterin, eine, welche all die Jahre nicht von ihrer Seite wich, ist die Muse. «Alle Menschen tragen eine riesige Menge Kreativität in sich, sonst lässt sich das Leben aus meiner Sicht gar nicht meistern», sagte sie einmal. Und so probierte Goldschöpfchen immer neue Getränke aus. Manche kamen beim Volk an, andere blieben in den Regalen der Wirtshäuser stehen. Manchmal, an Tagen, an denen der Mut sie kurz zu verlassen droht, sieht sie die grossen Karren der Konkurrenten vorbeiziehen, sieht die Heerscharen von grossen Händlern auf dem Markt: Rhäzünser oder Coca-Cola. Das macht sie dann noch nachdenklicher: «Ich werde schwermütig, wenn ich daran denke, was es alles für Konkurrenz gibt. Der Getränkemarkt ist überschwemmt mit Produkten.» Doch das sind dann nur Momente, die wieder vorbei gehen. Goldschöpfchen fasst immer wieder neuen Mut.

Sich selbst sah sie nie als Regierende (CEO) oder Königin (Managerin), obwohl sie an der Hochschule St. Gallen gelernt hatte, wie man regiert (Management-Kurse). Sie ist eine gestrenge Meisterin, die viel von ihren Mitarbeitern verlangt. Aber nie verbot sie ihnen den Mund, hört auch auf sie. Und ohne Freundlichkeit geht es nicht für Gabriela Manser. Meisterin sein, das bedeutet für sie auch hegen und pflegen.

Eines Tages, als Goldschöpfchen durch die Natur flanierte, wie sie es zu tun pflegte, ging die letzte Schublade ihrer Schatulle auf. Als sie sie öffnete, war darin nichts als Luft. Einem Atemzug gleich entwich sie aus der Zauberschatulle. Und plötzlich überkam Goldschöpfchen ein Gefühl der Ruhe und Zuversicht. Der Atem der Schatulle hatte ihr schliesslich eine neue Quelle der Kraft gezeigt: Ihren eigenen Atem. «Für mich ist Atemtherapie eine Lebensphilosophie, die es mir ermöglicht, im Sturm, der um mich tobt, mich selber zu bleiben. Ich kann immer nur im Jetzt atmen und mit jedem Atemzug neu anfangen», sagt sie heute.

Goldschöpfchen heiratete mit 58. Das Lebenswerk ihres Vaters ist zu ihrem eigenen geworden. Eigene Kinder hat sie nicht, denn ihre Liebe verteilte sie anderswo: «Ich hatte genug Zeit, meine mütterliche Seite während der 17 Jahre als Kindergärtnerin auszuleben», sagt sie. «Jetzt bin ich mit Leib und Seele Unternehmerin». Sie lebt glücklich und zufrieden – bis zum heutigen Tag.

Pioniergeist Ostschweiz

Menschen, welche das Leben in der Schweiz und manchmal sogar im Aus­land veränderten: Solche Pio­niere gab und gibt es auch in der Ostschweiz. higgs porträtiert bekannte aber auch unbekannte Persönlich­­keiten, die Pionier­leistungen erbrachten. Wir stöbern in den Archiven, reden mit Nachkommen oder gleich mit den Pionieren und Pionierinnen selber. Diese higgs-Serie wird am Ende zu einem attraktiven Coffee-Table-Buch zusammengefasst – ganz nach dem Vorbild des Vorgänger­projektes «Zürcher Pio­­niergeist».
 
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