Das musst du wissen
- Bei Klimaklagen gelangen Aktivisten oder Einzelpersonen an nationale und internationale Gerichte.
- So versuchen sie, Regierungen oder Firmen zu Klimamassnahmen zu bringen.
- Gerichte sind in solchen Fällen mit zahlreichen Prognosen und Daten konfrontiert – Entscheide zu fällen, ist schwierig.
Frau Keller, Sie sind auf Menschenrechte spezialisiert und waren rund neun Jahre Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR. Was hat Sie zu den Menschenrechten gebracht?
Mir wurde schon während des Studiums klar, dass ich nicht mit Wirtschaftsrecht mein Geld verdienen will. Ich möchte mich da engagieren, wo ich gesellschaftlich relevant bin. Und ich möchte, wenn ich irgendwann vor der Himmelspforte stehe, nicht sagen müssen, ich war nur auf der Erde, um Geld zu scheffeln. Das ist nicht mein Ding. Meinen Blick auf die Menschenrechte hat auch geprägt, dass ich aus bescheidenen Verhältnissen komme: Ich bin ein Arbeiterkind aus Winterthur.
Ist das Thema Menschenrechte heute akuter als vor fünfzig Jahren?
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Menschenrechte einen grossen Schub bekommen. Es gab sie schon vorher, sie haben aber nicht so eine grosse Rolle gespielt. Man hat sie immer ein bisschen unter dem Deckel gehalten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat man zumindest in Europa verstanden, dass man den Staaten einen Teil der Souveränität wegnehmen muss, wenn man die Menschenrechte wirksam schützen will. Aber es hat diese riesige Katastrophe gebraucht, damit wir so weit gekommen sind. Erst dann gab es eine Einigkeit in Sinne von: Wir müssen da anders agieren, damit man die Menschen, also Sie und mich, effektiv schützen kann.
Was hat sich seither bezüglich Menschenrechte getan?
Menschenrechte sind sehr evolutiv, das heisst, die Anforderungen ändern sich rasant, auch weil die Gesellschaft sich sehr schnell ändert. Wenn Sie mir vor zwanzig Jahren gesagt hätten, dass der Persönlichkeitsschutz 2021 zum Problem wird, hätte ich das damals nicht geglaubt. Da sind wir richtiggehend überrollt worden: Alles, was wir heute machen, ist auf dem Handy dokumentiert und kann überwacht werden. Es stellen sich durch den technischen Fortschritt neue rechtliche Fragen. Wir Juristen hinken immer hinterher, bei den Menschenrechten ist es aber besonders wichtig, dass man nicht zu viel Verspätung hat.
Solche neuen Fragen ergeben sich auch durch den Klimawandel…
Genau. In den letzten fünf Jahren sind die Klimaklagen weltweit explodiert. Wir sehen, dass Individuen aber zunehmend auch NGOs den Klageweg beschreiten, weil sie merken, dass die Regierungen und Parlamente nicht genug gegen die Klimaerwärmung unternehmen.
Gegen wen klagt man da überhaupt?
Das ist eine grosse und wichtige Frage. Das Klimaproblem betrifft ja nicht einfach einen Staat, sondern es ist die Staatengemeinschaft, die das lösen muss. Verschiedene Regierungen versuchen auch, sich mit diesem Argument herauszureden.
Und, funktioniert diese Argumentation?
Nicht immer. Es gibt einen berühmten Fall aus den Niederlanden, wo Umweltschützer den Staat verklagten, weil er zu wenig gegen den Klimawandel tue. Die Regierung hat argumentiert: Wir sind ein so kleines Land, dass unser Beitrag zum Klimaschutz vernachlässigbar ist. Das höchste niederländische Gericht hat das nicht gelten lassen und festgehalten, dass die Regierung ihren Teil beitragen muss, um den Ausstoss von klimawirksamen Gasen zu reduzieren.
Jüngst wurden sogar Klimaklagen gegen Unternehmen verhandelt.
Diese Verfahren sind noch schwieriger. Wir haben die ersten Urteile zum Beispiel gegen Shell. Ein Gericht – ebenfalls in den Niederlanden – hat Klimaschützern recht gegeben und Shell verpflichtet, seine Emissionen zu drosseln. Dieses Urteil ist in der Rechtswissenschaft zum Teil sehr stark kritisiert worden. Denn Shell ist eine Firma, die ist a priori nicht an Grundrechte gebunden und schon gar nicht an das Pariser Klimaabkommen, das sind die Staaten. Aber das erstinstanzliche Gericht hat gesagt: Internationale Verpflichtungen sind Teil der privatrechtlichen niederländischen Haftungsordnung. Das Gericht hat sich somit nicht direkt auf internationale Vorgaben oder auf die Menschenrechte gestützt, sondern auf eine offene nationale Haftungsnorm. Diese hat es im Lichte der internationalen Vorgaben interpretiert. Da waren die Richterinnen und Richter mutig. Sie haben am Schluss nämlich gesagt, Shell hat eine Verpflichtung, bis 2030 seine globalen Kohlendioxidemissionen um 45 Prozent verglichen mit 2019 zu senken. Aber Shell zieht dieses Urteil sicherlich weiter zur zweiten Instanz. Ich finde die Argumentation des erstinstanzlichen Gerichts kreativ, und bin gespannt, was die zweite und dritte Instanz dazu sagen werden.
Die Urteile in Klimaklagen fallen recht unterschiedlich aus, warum?
Gerichte sind bei diesem Thema in einer schwierigen Lage und müssen gut abwägen, wie weit sie gehen können. Das hängt auch sehr stark mit dem Selbstverständnis eines Gerichts zusammen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel.
Bitte.
Wir haben auf der einen Seite die Klimaseniorinnen in der Schweiz, die vor Bundesgericht abgeblitzt sind. Das Bundesgericht war der Meinung, dass Klimaseniorinnen nicht mehr als alle anderen betroffen seien vom Klimawandel. Dabei haben wir relativ klare Daten, die zeigen, dass ältere Frauen, wenn es heiss ist, eine sehr viel höhere Mortalität als der Rest der Bevölkerung haben.
Und auf der anderen Seite?
Auf der anderen Seite haben wir das Bundesverfassungsgericht in Deutschland, das einen sehr langen und detaillierten Entscheid gefällt hat im Fall einer Klage von jugendlichen Klimaaktivisten. Das Bundesverfassungsgericht hat vorweg die Legitimation, das heisst die Betroffenheit dieser jungen Menschen, bejaht. Anschliessend hat es gesagt: Wenn wir die wissenschaftlichen Prognosen ernst nehmen, dann müssen wir jetzt die Klimaziele erreichen und die Massnahmen stark verschärfen, sonst wird die Generation der heutigen Jugendlichen in zwanzig bis dreissig Jahren in ihren Grundrechten erheblich eingeschränkt, weil die Lebenssituation auf diesem Planeten so viel schlechter geworden ist. Also auf der einen Seite haben wir das Bundesgericht, das sich völlig aus dem Rennen nimmt und sagt, diesen Entscheid überlassen wir lieber der Politik. Und auf der anderen Seite das Bundesverfassungsgericht, das sagt, wir müssen die Grundrechte im Grundgesetz nachhaltig schützen. Hier zeigt sich ein ganz unterschiedliches Selbstverständnis des jeweiligen Gerichts.
War ein Faktor, dass das Bundesgericht so entschieden hat, auch, dass die Kausalität zwischen Klimawandel und individuellen Todesfällen schwierig zu beweisen ist?
So weit ist das Bundesgericht gar nicht gekommen, dass es sich zur Frage der Kausalität hätte substanziell äussern können. Prozessrechtlich hat es die Klimaseniorinnen früher abgeschmettert. Wie Beschwerdeführer argumentieren müssten, damit es nicht so einfach ist, eine Klimaklage einfach abzuschmettern, dazu haben wir jüngst eine Studie verfasst, die demnächst publiziert wird.
Sie sprechen von Ihrem Forschungsprojekt über Klimarechte, dass Sie an der Universität Zürich durchführen. Worum geht es darin?
Es geht mir darum, aufzuzeigen, was das Potential solcher Klagen oder Beschwerden ist. Und wo die Gerichte aufpassen müssen, dass sie nicht abdriften und zu «aktivistisch» entscheiden. Denn das würde die Legitimation und das Renommee eines Gerichtes gefährden.
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Weil Klimaklagen ein relativ neues Phänomen sind?
Allzu aktivistisch dürfen Gerichte ganz grundsätzlich nicht sein. Aber im Klimabereich sind wir zusätzlich damit konfrontiert, dass ein guter Verhaltenskodex für die Richterinnen und Richter fehlt, wenn komplexe wissenschaftliche Fragen auf sie zukommen. Wir kennen das zwar auch aus anderen Gebieten. Bei Kunstfehlern im Medizinrecht etwa haben wir auch wissenschaftliche Gutachten von beiden Seiten. Aber bei den Klimafällen ist das Volumen der Daten und Dokumente riesig. Im Klimawandel geht es zudem oft um Modelle und Prognosen. Das haben wir jetzt auch in der Pandemie gesehen: Irgendein kleiner Parameter kann wechseln und dann entwickeln sich die Zahlen ganz anders. Es geht um solche Fragen. Wir untersuchen: Wie gehen Richterinnen und Richter am besten mit der Datenlage um, wo müssen sie sich zurücknehmen und sagen, da ist es für uns zu unbestimmt? Wo müssen sie sagen, das ist jetzt eher ein politischer Entscheid, bei dem die Gesellschaft dahinterstehen muss?
Und was lässt sich mit solchen Klimaklagen erreichen?
Hier haben wir nur die Vergleiche zum Umweltrecht. In einer noch nicht publizierten Studie haben wir die grossen umweltrechtlichen Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der letzten zwanzig Jahre untersucht und haben uns gefragt, was ist da eigentlich rausgekommen? Das Resultat war ernüchternd. Von Aktivismus des Gerichtshofes kann keine Rede sein!
Wird Ihr Projekt eine Wirkung haben?
Ich hoffe schon. In der Klimafrage haben wir sicher zehn Jahre verloren. Wir müssen die Akteure dazu bringen, Massnahmen zu ergreifen, damit wir das Allerschlimmste verhindern können. Zu den sozial relevanten Akteuren gehören auch die Gerichte. Als Rechtswissenschaftler wollen wir ihnen Leitlinien bieten, um gute Urteile abzufassen. Das muss nicht heissen, dass die Gerichte revolutionäre Urteile fällen müssen. Man kann eine Klage auch abschmettern, aber auch das muss gut begründet sein.
Für gute Urteile braucht man aber auch gute Gesetze, oder?
Was sind gute Gesetze? Was sind gute Urteile? Im Endeffekt geht es um die Frage, wie organisieren wir eine möglichst gerechte Gesellschaft? Die Gerechtigkeitsfrage kann sich natürlich ändern. Vor hundert Jahren wollte man den Frauen kein Stimmrecht geben, das war gesellschaftlich weitgehend akzeptiert, heute gäbe es einen Aufschrei. Das Recht ist wandelbar. Es ist immer nur ein Abbild, ein Sich-Annähern an eine möglichst gerechte Gesellschaft. Genauso ist es mit dem Klimawandel: Er wirft die Gerechtigkeitsfrage neu – und für viele Menschen existenziell – auf.