«Bits» kennen wir aus der Informatik: Das Kofferwort aus den englischen Begriffen «binary» und «digit» ist eine Masseinheit für Informationsgehalt und für die Datenmenge digital gespeicherter oder übertragener Daten. Auch die Informationsverarbeitung unseres Gehirns lässt sich in Bits messen – beim Lesen dieses Satzes beispielsweise verarbeitet Ihr bewusster Verstand etwa 45 Bits pro Sekunde. Der Neurobiologe Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurologie an der Universität Bremen, hat herausgefunden, dass bei rund 60 Bits pro Sekunde das Bewusstsein an seine Grenzen stösst. Dagegen scheint das Fassungsvermögen des Unbewussten schier unerschöpflich: Zählt man die Zellen unserer Sinnesorgane zusammen und berechnet wie viele Signale diese Sinneszellen an das Gehirn weiterleiten, wachsen die Zahlen ins Astronomische – allein die Augen schicken pro Sekunde zehn Millionen Bits in die Schaltzentrale. Das legt den Schluss nahe, dass das Unbewusste dem Bewusstsein haushoch überlegen sein muss, wenn es um die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen geht – Roth beziffert die Arbeitsleistung des Bewusstseins auf 0,1 Prozent des Arbeitsspeichers des Unbewussten.

Roth – gern gesehener Gastreferent auf Psychotherapiekongressen – allerdings hält die gängige, von der Psychoanalyse Freuds geprägte Vorstellung von der Funktion des Unbewussten für widerlegt: «Das Unbewusste, das Freud meist meinte, ist das, was im Langzeitgedächtnis abgespeichert ist, es ist also vorbewusst und kann erinnert werden, wie alles, was im Langzeitgedächtnis abgelegt ist», erklärt der Neurowissenschaftler im Interview mit dem Deutschen Ärzteblatt und kritisiert aufgrund seiner Forschung psychoanalytische Wirkungsmodelle: «Auch für die Komponenten Ich, Es und Über-Ich lassen sich neuronal keine ‹Orte› oder Funktionen im Gehirn nachweisen. Das ist alles viel komplexer, als es diese Modelle abbilden.»

Wissen, aber nicht fühlen

Falsche Annahmen aufgedeckt hat auch Roths portugiesischer Berufskollege António Damásio, der heute zusammen mit seiner Frau Hanna Damásio das Dornsife Neuroimaging Center an der University of Southern California in Los Angeles leitet. 1995 lenkte Damásio mit seinem Bestseller «Descartes’ Irrtum» – der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes postulierte im 17. Jahrhundert, dass der menschliche Geist zur Existenz keiner Materie, also des Körpers, bedürfe – die neurowissenschaftliche, aber auch die psychologische und soziologische Forschung in eine neue Richtung: Galt seit der Antike die Lehrmeinung, der Mensch entscheide rational, offenbarte Damásios Forschung eine neue Wahrheit: Ohne Gefühl ist der Verstand hilflos.

Wesentlich zu dieser Erkenntnis beigetragen hatte Damásios Arbeit mit einem Patienten, der ihm zur vertieften Abklärung überwiesen worden war – im Buch Elliot Smith genannt. «Auf den ersten Blick war Elliot ein intelligenter, begabter und leistungsfähiger Mann, der bloss zur Vernunft hätte kommen müssen und zur Arbeit zurückkehren sollte. Verschiedene Fachleute hatten bestätigt, dass seine geistigen Fähigkeiten intakt waren – was bedeutet hätte, dass Elliot im besten Fall faul war, im schlechtesten ein Simulant.»

Adobe Stock/Viacheslav Iakobchuk

Das Unbewusste lässt sich im Gehirn nicht verorten. Die moderne Forschung aber kann die Beteiligung des vegetativen Nervensystems an der Entscheidungsfindung messen.

Elliot – einst ein erfolgreicher Geschäftsmann und glücklich verheiratet – war ein Tumor von der Grösse einer Mandarine entfernt worden, der hinter seiner Stirn gewuchert war. Mit der bösartigen Geschwulst musste auch ein Teil des Stirnlappens, dem vorderen Teil der Grosshirnrinde, entfernt werden. Die Operation verlief ohne Komplikationen, aber Elliot war danach nicht mehr derselbe: Er war unfähig, auch nur die kleinste Entscheidung zu fällen. Seine Anstellung verlor er, weil der zuvor als zuverlässig und initiativ beschriebene Geschäftsmann seine Arbeit entweder fehlerhaft erledigte – oder gar nicht. Seine Ehe ging in Brüche – ebenso eine zweite, hastig geschlossene. Schliesslich landete Elliot verarmt und vereinsamt in der Obhut seiner Geschwister.

Auch Damásio testete Elliots Intelligenz, sein Gedächtnis, seine Auffassungsgabe und seine Sprachkompetenz. Elliot war weder dumm noch ungebildet – aber er verhielt sich so. Elliot war unfähig, auch nur wenige Stunden in die Zukunft zu planen, geschweige denn Monate oder Jahre. Da ging Damásio ein Licht auf: «Elliot erzählte die Tragödie seines Lebens mit einer Distanziertheit, die mit dem tatsächlichen Ausmass der Ereignisse nicht übereinstimmte», erinnert sich der Mediziner, «er wirkte immer kontrolliert und beschrieb die Szenen als leidenschaftsloser, unbeteiligter Zuschauer. Nirgendwo gab es ein Gefühl für sein eigenes Leiden, obwohl er der Protagonist war.» Dem Neurowissenschaftler wurde klar, dass er mehr unter der Lebensgeschichte seines Patienten litt als sein Patient selbst. Was Elliot fehlte, war nicht Wissen oder Intelligenz, es fehlte ihm an Gefühl: «Zusammenfassend können wir sagen, Elliots Dilemma besteht darin, zu wissen, aber nicht zu fühlen.»

Kondensierte Lebenserfahrung

Während Damásio seine Erkenntnisse noch vorsichtig als Thesen formulierte, hat die empirische Forschung mittlerweile seinen Befund bestätigt: Wir entscheiden häufig «aus dem Bauch heraus» – weil Hormone unsere Wahl steuern, Stress das Denken blockiert, weil wir uns an Vertrauenspersonen orientieren und uns die Tageszeit, Geräusche und Gerüche beeinflussen. Und wir entscheiden nach Bauchgefühl oft besser als nach langwierigem Abwägen. Trotzdem lohnt sich ein genauerer Blick auf die Forschungsergebnisse. Die beste Wahl – wenig erstaunlich – treffen wir, wenn Kopf und Herz im Einklang entscheiden, weil uns Ängste und Vorurteile auf die falsche Bahn lenken können. Weiter ist das Unbewusste, das gemäss der Forschung unsere Entscheidungen lenkt, nicht mehr die von Freud beschriebene, unberechenbare Kraft, wo Triebe und verdrängte Traumata bestimmen, sondern ein Kondensat unserer Lebenserfahrungen.

Das Unbewusste ist eine Art Vorzimmer, das das Bewusstsein von dem überwältigenden Input aus der Aussenwelt abschirmt, das registriert und speichert, was um uns herum geschieht, die Rohdaten sortiert und filtert und nur die Informationen ans Bewusstsein weiterleitet, die von Bedeutung sind. «Da das Unbewusste uns per definitionem nicht bewusst wird, haben wir den Eindruck, es sei gar nicht vorhanden. Wir haben das Gefühl, alle Vorgänge, die sich in unserem Geist abspielen – alles was wir denken und wahrnehmen –, würden uns bewusst. Aber dieser Eindruck täuscht», erläutert Wissenschaftsjournalist Bas Kast, Autor des Buches «Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft». Zum Beweis führt er den sogenannten «Cocktailparty-Effekt» an – die Fähigkeit des Menschen, während einer Unterhaltung, die man aufmerksam verfolgt, umgebende Geräusche aus dem Bewusstsein auszublenden. Allerdings werden die Umgebungsgeräusche dennoch registriert und ihrer Bedeutung nach ausgewertet: Fällt beispielsweise in einer nahen Gesprächsgruppe der eigene Name, horcht man auf. Deshalb hat das Unbewusste für Kast vor allem eine wesentliche Funktion: Es soll das Gehirn vor einer Überlastung schützen.

Der Bauch weiss Bescheid

Warum aber ist das Bauchgefühl der bessere Wahlberater? «Weil wir in einer Welt der Unsicherheiten leben. Grosse Teile der ökonomischen Forschung haben sich mit der Frage der Optimierung beschäftigt, aber diese setzt eine stabile Welt voraus, in der es keine Überraschungen gibt und alle Unsicherheiten quantifiziert werden können», erklärt der Psychologe Gerd Gigerenzer im Interview mit der Wirtschaftszeitung Handelsblatt. Der Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin ermutigte Entscheidungsträger schon vor über zehn Jahren in seinem preisgekrönten Buch «Bauchentscheidungen», besser auf ihre Intuition zu hören.

Füsse und zwei Pfeile, die in unterschiedliche Richtungen zeigen. Unsplash/Jon Tyson

Wohin führt der Weg? Fehlen wichtige Informationen, ist das Bauchgefühl oft der beste Ratgeber.

«Wir sind mit unseren Untersuchungen am Max-Planck-Institut seit Jahren dem Phänomen auf der Spur, dass man mit heuristischen Methoden, also mit einfachen Faustregeln, in vielen Fällen schneller, ökonomischer und auch besser entscheiden kann als mit komplexen analytischen Methoden», führt Gigerenzer aus. «Wir haben es hier mit dem Grundproblem zu tun, dass Optimierungsstrategien in der Regel grosse Datenmengen benötigen, um ihre Parameter zuverlässig zu schätzen.» Der Tipp des Sozialwissenschaftlers: die Intuition von Experten höher gewichten, vermehrt auf unbewusste Intelligenz setzen: «Gute Experten arbeiten mit unbewusster Intelligenz. Es gibt einfach viele Fähigkeiten, die können Sie in Sprache nicht ausreichend ausdrücken. Wir haben nachgewiesen, dass in Situationen mit hoher Unsicherheit Entscheidungen besser werden, wenn man diese mit einem guten Grund trifft statt aufgrund von vielen Gründen oder einem komplexen statistischen Programm. In unseren unsicheren und bewegten Zeiten ist dabei ein klares Verständnis von Intuition und schnellen heuristischen Prozessen besonders gefordert.»

Zu viel des Guten

«In Amerika habe ich die freiesten und gebildetsten Menschen angetroffen, die unter den glücklichsten Umständen der Welt leben; dennoch schien es mir, dass gewöhnlich eine Wolke über ihrer Stirn hing, und sie schienen ernst und fast traurig, selbst in ihren Freuden», erinnert sich der französische Publizist und Historiker Alexis de Tocqueville in seinem Hauptwerk von 1836, «Über die Demokratie in Amerika», an Begegnungen während einer Reise durch die Vereinigten Staaten. Sheena Iyengar von der Columbia University und Mark Lepper von der Stanford University zitieren de Tocqueville in ihrer Studie «When Choice is Demotivating: Can One Desire Too Much of a Good Thing?» (Wenn Wahlmöglichkeiten demotivierend wirken: Kann man sich zu viel des Guten wünschen?), um zu unterstreichen, dass sich das heute zum Teil bereits als «Tyrannei der Wahl» bezeichnete Phänomen in freiheitlichen, kapitalistischen Gesellschaften bereits vor über 150 Jahren abzuzeichnen begann. Denn nicht nur in komplexen Situationen – auch in einfachen Alltagsangelegenheiten überfordern uns die wachsenden Wahlmöglichkeiten zusehends. Dabei verneinen die Forscher die positiven Effekte eines persönlichen Entscheidungsspielraums keineswegs – weil es uns motiviert, unser Leben zumindest in Teilen selbst gestalten zu können.

In verschiedenen Versuchsanordnungen aber haben Iyengar und Lepper aufgezeigt, dass zu viele mögliche Alternativen unsere Entscheidungsfreude hemmen: So kaufte fast ein Drittel der Kunden ein Glas Konfitüre, nachdem sie im Laden sechs verschiedene Sorten probieren durften. Von denjenigen, die aus 24 verschiedenen Geschmacksrichtungen wählen konnten, entschieden sich nur drei Prozent zum Kauf. Studenten, denen Zusatzpunkte für die Endnote versprochen wurden, wenn sie ein zweiseitiges Essay über ein bestimmtes Thema schreiben würden, entschieden sich häufiger, das Angebot anzunehmen – und schrieben die besseren Texte –, wenn sie aus sechs möglichen Themen auswählen konnten, anstatt sich zwischen 30 verschiedenen Topics entscheiden zu müssen. Die Psychologen Iyengar und Lepper vermuten, dass mit breiteren Wahlmöglichkeiten auch die individuelle Verantwortung wächst, die «richtige» Entscheidung zu treffen – auch wenn es nur um Brotaufstrich geht –, und wir uns davor fürchten, falsch zu wählen. Sie nehmen an, dass wir uns bei einem grossen Angebot verschiedener Möglichkeiten aus ökonomischen Gründen für die erstbeste, einigermassen passende Alternative entscheiden, um Zeit und Energie zu sparen, anstatt aufwendig nach der für uns am besten passenden Option zu suchen.

Die Schattenseiten der Optimierung

So werde Bequemlichkeit immer mehr zum Treiber menschlicher Entscheidungen, befürchtet Rechtsprofessor Tim Wu in einem viel beachteten Beitrag in der New York Times: «Convenience (zu Deutsch: Bequemlichkeit, Zweckmässigkeit, Verbraucherfreundlichkeit) hat die Fähigkeit, andere Optionen undenkbar zu machen. Wenn man einmal eine Waschmaschine benutzt hat, erscheint das Waschen von Hand irrational, auch wenn es billiger ist.» Convenience sei die «Haushaltsversion der industriellen Effizienz» meint Wu, die einst als utopisches Ideal dem gemeinen Volk die «Freiheit zur Selbstkultivierung» verleihen sollte, die zuvor der Aristokratie vorbehalten war. In Tat und Wahrheit aber hat sie nur höhere Anforderungen geschaffen: «Trotz all den neuen arbeitssparenden Geräten, verbringt die moderne amerikanische Hausfrau wahrscheinlich mehr Zeit mit Hausarbeit als ihre Grossmutter», stellte Feministin Betty Friedan schon 1963 im Buch «Der Weiblichkeitswahn» konsterniert fest.

Tim Wu nun glaubt, in den 1980er-Jahren sei eine zweite Convenience-Welle angelaufen, die den Menschen im Rahmen der Digitalisierung Technologien zur vereinfachten Personalisierung und Individualisierung zur Verfügung stellt, uns aber im Gegenzug permanent unter Druck setzt, diese Möglichkeiten optimal zu nutzen, um das beste aller möglichen Leben zu führen. Dabei aber liefen wir Gefahr, das Wesentliche aus den Augen zu verlieren, warnt Wu: «Wenn die Dinge einfacher werden, können wir versuchen, unsere Zeit mit weiteren ‹einfachen Aufgaben› auszufüllen. Irgendwann aber wird der entscheidende Kampf des Lebens zur Tyrannei winziger Pflichten und belangloser Entscheidungen.»

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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