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Die Argumentation ist geschickt aufgebaut.
- Die Impfung gegen Covid-19 ist zweifellos mit gewissen Risiken verbunden.
- Aber auch der Verzicht auf die Impfung beinhaltet Risiken.
- Also muss jede und jeder aufgrund der persönlichen Situation abwägen, wie man sich bezüglich der Covid-19-Impfung entscheidet.
Hier beginnen meine Fragezeichen. Können Laien eine rationale Risikoabschätzung vornehmen? Oder entscheiden sie nicht vielmehr nach dem gefühlten Risiko?
Dazu ein paar Zahlen: Bisher wurden in der Schweiz 11 542 100 (Stand 18.11. gemäss BAG) Impfdosen verabreicht. Schwerwiegende Nebenwirkungen gemeldet wurden bis zum 5. November 3396. Das heisst umgerechnet: Von 10 000 Impfungen kommt es bei rund drei zu einer schwerwiegenden Nebenwirkung.
Das sind aber erst Verdachtsfälle, die zuerst noch abgeklärt werden müssen. Die korrekte Zahl dürfte darunter liegen. Todesfälle, die nachweislich auf die Impfung zurückzuführen sind, wurden keine verzeichnet.
Zum Vergleich: Von zehntausend Personen, die sich mit Covid infizieren, landen in der Schweiz aktuell 128 im Spital (gemäss BAG Durchschnitt der letzten vier Wochen). Dabei sind die Personen, welche nicht im Spital waren und nun an Long-Covid leiden, nicht mal einbezogen.
Wenn man nun vergleicht:
128 Spitaleinweisungen ohne Impfung gegen drei schwere Komplikationen bei der Impfung. Die Erkrankung birgt im Vergleich zur Impfung gegenwärtig also ein mehr als vierzigfach höheres Risiko für schwere Komplikationen.
Wie man sich angesichts dieser Zahlen eigenverantwortlich entscheidet, scheint mir klar. Ausser, man nimmt bewusst das höhere Risiko in Kauf.
Verhältnisse vertuschen, auf Eigenverantwortung pochen
Bloss: Gerade diese Kreise, die auf Eigenverantwortung pochen, reden die Risiken der Krankheit klein und übertreiben jene der Impfung.
Wenn die Risiken also ungefähr gleich sind, kann man aufgrund dieser vorgegaukelten Verhältnisse gut aufgrund des Gefühls entscheiden und sich nicht impfen lassen.
Das ist das Muster: Zuerst die Realität verfälschen, dann auf Eigenverantwortung pochen. Wohin das führt, sehen wir gerade in den Ländern um uns herum. Geradezu explodierende Fallzahlen. Auch wenn die Schweiz im Moment noch hinterherhinkt. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich die Infektionen bei uns anders entwickeln werden.
Kein Verlass auf Eigenverantwortung
Ist Eigenverantwortung der Weg, um ein komplexes Problem zu lösen, für das es den Beitrag vieler Einzelner in der Gesellschaft braucht? Nein.
Beispiel Gewässerschutz:
Warnung vor den Gefahren der verschmutzten Aare im Solothurner Strandbad 1966.
Noch vor sechzig Jahren konnte die Bevölkerung nicht sorglos in Schweizer Gewässern baden. Sie waren überdüngt wegen der Phosphate in den Waschmitteln und der Abwässer aus der Viehzucht. Die Situation war derart prekär, dass 1962 eine Eidgenössische Volksinitiative eingereicht wurde, die den Bau von Kläranlagen forderte. Das Volk hat sie aber mit einer riesigen Mehrheit abgelehnt. Trotzdem hat die Politik das Anliegen aufgenommen, den Bau von Kläranlagen begonnen und später ein Gewässerschutzgesetz erlassen. Heute sind unsere Seen und Flüsse wieder klar und voller Leben.
Beispiel Ozonloch:
Dass Fluorchlorkohlenwasserstoffe FCKW die Ozonschicht zerstören, wurde in den 1980er-Jahren wissenschaftlich bewiesen und war allgemein bekannt. Haben Konsumentinnen und Konsumenten auf Spraydosen verzichtet, in denen FCKW als Treibmittel verwendet wurden? Hat die Industrie freiwillig auf FCKW als Reinigungsmittel verzichtet? Nein. Erst das Montrealer Übereinkommen von 1999 hat die Stoffe verboten und die Zerstörung der Ozonschicht aufhalten können.
Beispiel Luftverschmutzung:
Dass Schadstoffe aus Verbrennungsmotoren die Gesundheit gefährden, dem Wald schaden und die Gewässer versauern, war allseits bekannt. Hat irgendein Autohersteller freiwillig einen Katalysator eingebaut und versucht, mit «sauberen» Fahrzeugen einen Marktvorteil zu erringen? Nein.
Erfunden wurde der Katalysator schon in den 1950er-Jahren. Rund dreissig Jahre danach (1985) erstmals in Deutschland zugelassen.
Aber erst 1993 kam die Neuwagen-Katpflicht per Gesetz in der EU – und wurde dann von der Schweiz übernommen. Erst der politische Druck und dann die Gesetze führten zum Umdenken und verhalfen dem Katalysator zum Durchbruch.
Und sogar wenn dann Gesetze eingeführt sind, haben sie oft wenig Einsicht zur Folge.
Beispiel Glühbirnen:
Nach dem Verbot der Glühbirnen begannen die Leute, diese zu hamstern, um noch möglichst lange mit der energieverschwendenden Technologie ihre Häuser zu beleuchten.
Beispiel Ölheizung:
Gleiches läuft auch aktuell ab. Wir alle wissen, dass das Mittel gegen die Klimaerwärmung eine Reduktion des CO₂-Ausstosses ist. Also zum Beispiel Heizungen mit Öl und Gas durch solche mit erneuerbaren Energien zu ersetzen: Holz, Sonne, Wärmepumpen.
Funktioniert Eigenverantwortung zum Schutz des Klimas? Fehlanzeige. Im Kanton Zürich stimmen wir am kommenden Wochenende über ein Gesetz ab, das Ölheizungen verbieten will. Der Widerstand ist enorm. Und das absurde Verhalten von Konsumentinnen und Konsumenten ebenfalls: Anstatt, dass man jetzt die Gelegenheit und die staatlichen Fördergelder nutzt und ein umweltfreundliches Heizsystem einbaut, kaufen viele noch schnell eine Ölheizung. Dasselbe beobachtete man auch in Kantonen, die bereits ein solches Gesetz kennen.
Was sind die Massnahmen bei Eigenverantwortung?
Zurück zu Covid. Interessant wäre jetzt, zu erfahren, wie die Corona-Skeptiker aktuell die Eigenverantwortung nutzen wollen, um die Pandemie zu bewältigen. In Österreich befürwortet die Wirtschaftskammer den erneuten Lockdown, die Gastronomie steht sogar hinter der Impfpflicht, wie die NZZ zitiert. Es sei die einzige Methode, das Weihnachtsgeschäft zu retten. Die Reaktion der Eigenverantwortlichen: Proteste und Strassenschlachten. Siehe letztes Wochenende in Wien, Rotterdam und Brüssel.
Was wir in der ganzen Diskussion vergessen haben: die Freiheitsfordernden zu fragen, was sie denn vorschlagen. Wäre ich Politiker, würde ich die Freiheitstrychler und Massvollen an einen runden Tisch bitten und sie fragen, wie sie verhindern wollen, dass in zwei Wochen die Infektionen in der Schweiz auf dem Niveau von Österreich liegen. Eigenverantwortung, aber ganz konkret bitte. Vorschläge sind auch hier in der Kommentarspalte herzlich willkommen.
Der Faktist
