Das musst du wissen

  • Gifte bekämpfen Mikroben von der Tierzucht bis zu Spitälern. Hyperresistente Erreger werden so selektioniert.
  • Die Mutationsrate von Mikroben steigt unter Anpassungsdruck um einen Faktor von zehn bis tausend.
  • Auch die Mutationsrate von Viren und menschlichen Zellen steigt unter den gegenwärtigen Bedingungen.
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In der Corona-Pandemie scheinen wir dem neuen Coronavirus immer einen Schritt hinterherzuhinken. «Je mehr wir impfen, desto mehr Mutationen werden auftreten», sagte der Präsident des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler Ende Januar. Denn die Viren stossen in Geimpften auf die Gegenwehr des Immunsystems. Nur wenige Viren überstehen diesen Kampf, und zwar genau jene, die den Impfschutz aushebeln können. Millionen von Geimpften und Infizierten weltweit bilden ein gewaltiges Terrain zur Aufrüstung für das Virus. So kann irgendwann und irgendwo eine neue schlagkräftige Mutante entstehen. Oder mehrere.

Da die Menschheit nun auf die Impfung als Strategie aus der Pandemie setzt, ist es deshalb wichtig, darauf zu achten, dass möglichst wenige Viren nach einmaliger Impfung und nachfolgender Infektion überleben. Aus dieser Sicht ist es gefährlich, wenn Millionen Menschen nun mangels Impfstoff für viele Wochen, vielleicht für immer nur eine Impfdosis erhalten statt zwei. Das erhöht die Gefahr von Mutanten, die der Impfung trotzen.

Die beschleunigte Evolution

Dass Mutationen immer schneller auftreten, ist ein Phänomen, dass nicht nur bei Sars-CoV-2 auftritt. Auch die Antibiotikaentwicklung gleicht gegenwärtig einer Berg- und Talfahrt. «Wir haben ein neues Antibiotikum entdeckt, gegen das Bakterien keine Resistenz entwickeln können», frohlockten Forschende beispielsweise 2015. Das neue Antibiotikum namens «Teixobactin» galt als grosser Hoffnungsträger. Sechs Jahre später – Teixobactin ist als Antibiotikum noch nicht einmal zugelassen – folgt Ernüchterung. Kolibakterien können sehr wohl auch gegen Teixobactin resistent werden, erbrachte eine neue Studie.

Vor allem in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sind antibiotikaresistente Keime ein zunehmendes Problem. Neuen Daten aus der EU zeigen, dass jedes Jahr mehr als eine halbe Million Menschen an Infektionen erkranken, gegen die bewährte Antibiotika nicht mehr helfen. Geschätzte 33 000 Erkrankte sterben jährlich. In wenigen Jahren hätten sich die Fälle der Infektionen teils vervielfacht, schreibt das Robert-Koch-Institut.

Die eigentliche Gefahr aber reicht tiefer: «Wir sehen, dass Antibiotikaresistenzen immer schneller und schneller auftreten», sagt der Mikrobiologe Jens Rolff an der Freien Universität Berlin im Gespräch. Und nicht nur Bakterien und Viren passen sich immer rascher an: Auch Resistenzen gegen Fungizide und Insektizide träten in immer kürzeren Abständen nach Einführung einer neuen Substanz auf. Gemeinsam mit dem Biologen Sebastian Bonhoeffer von der ETH Zürich hat Rolff alle verfügbaren Daten zur Markteinführung und zum erstmaligen Auftreten einer Resistenz zusammengetragen. Der Trend ist eindeutig, wie sie vergangenes Jahr in der Zeitschrift PLOS Pathogens darlegten. «Zuletzt dauerte es bei dem 2007 in der Schweiz zugelassenen Antibiotikum Daptomycin nur ein Jahr, bis Bakterien die Arznei brechen konnten», sagt Rolff.

Science-Check ✓

Studie: Is antimicrobial resistance evolution accelerating?KommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Publikation analysiert, auf welchen Daten die Annahmen von einer beschleunigten Evolution resistenzter Mikroben beruht. Die Beweise und Datenlage sind allerdings noch hypothetischer Natur. Es braucht mehr Forschung, um diese Beschleunigung zu bestätigen.Mehr Infos zu dieser Studie...

Mutationsraten erhöhen sich

Dass neue Mittel immer rascher ihre Wirksamkeit verlieren, liegt laut Rolff vermutlich an einem Selektionsdruck für immer grössere Wehrhaftigkeit. «Mikroben haben nur eine begrenzte Zahl an Mechanismen, sich gegen Gifte zu wappnen», sagt er. Sie können beispielsweise die Pumpen in der Zellwand anwerfen, damit schädliche Stoffe schneller aus der Zelle transportiert werden. Das macht sie aber robuster gegen alle möglichen Schadstoffe, auch nachweislich gegen Schwermetalle. Dadurch, dass Menschen massenhaft Gifte gegen Mikroben von der Tierzucht bis zu Krankenhäusern einsetzen und auch Böden und Wasser mit Fremdstoffen belasten, werden folglich hyperresistente Erreger selektioniert. Die Wehrhaftigkeit der Mikroben steigt so. In der Folge werden die neuen Waffen des Menschen dann aber immer schneller nutzlos.

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Am besten angepasst ist, wer möglichst viele Resistenzgene anhäuft. Die Bakterien, Viren und Pilze müssen sich also verändern. Wie die Mikroben mit ihrem Evolutions- das Innovationstempo überflügeln, beginnen Evolutionsbiologen erst zu verstehen: Antibiotika, Impfungen und Pestizide – und grundsätzlich auch jede andere veränderte Lebensbedingung – bewirken einen Anpassungsstress auf Mikroben. «In der Folge erhöhen sie ihre Mutationsrate um einen Faktor von zehn bis tausend», berichtet Dominique Schneider, Evolutionsbiologe an der Universität Grenoble im Gespräch. Das geschieht, indem sie bestimmte Gene aktivieren und Enzyme zum Tragen kommen, die die Fehlerrate beim Kopieren der Gene erhöhen. Die Mutationsrate legt zu. Sie ist das Gaspedal der Evolution. Mit dem Turbotempo steigt die Chance auf eine gut angepasste Mutante. Mikroben können nützliche Erbinformationen auch untereinander über sogenannte springende Gene tauschen, ergänzt Schneider. Das beschleunigt die Aufrüstung in der Welt der Mikroben nochmals.

Um diese Beschleunigung von Resistenzbildungen zu bremsen, fordert der Mikrobiologe Rolff, man müsse die Evolution in der Antibiotikaentwicklung berücksichtigen. Dafür müssen Forscher, die Mechanismen der Natur aber viel genauer verstehen. Die geht wesentlich feinstimmiger vor als die Menschen: Lebewesen etwa schützen sich mit einem Cocktail antibiotischer Wirkstoffe, die sie sehr lokal am eigenen Körper einsetzen. Auf der Haut eines Frosches entdeckten Forscher 700 solcher Substanzen. In der Umwelt bauen sie sich aber sofort ab. Schwämmen die Naturstoffe allzeit im Wasser herum, wären sie bald nutzlos, weil die Mikroben dagegen resistent würden. Das wäre so verheerend für den Frosch, wie die auftretenden Antibiotikaresistenzen für manche Kranke heute schon sind.

Und was ist mit dem Menschen?

Die beschleunigte Evolution bedingt auch das Artensterben. Da der Mensch die Lebensbedingungen für Tiere und Pflanzen in kurzer Zeit auf den Kopf gestellt hat, sei es durch fehlende Lebensräume, Pestizide und den Klimawandel, gelingt einigen Arten die Anpassung nicht mehr. Sie sterben aus. «Es sind eher Generalisten als Spezialisten, die überleben. Im Vorteil sind auch Organismen, deren Ursprungspopulation sehr gross ist, und die kurze Vermehrungszyklen haben. Deshalb haben Mikroben dem Menschen vieles voraus», sagt Klaus Schwenk, Ökologe an der Universität Koblenz-Landau. Günstig wirke sich auch aus, wenn Lebewesen wandern können. Deshalb sind schnell migrierende Pflanzen und Tiere im Vorteil und die invasiven Arten die neue First Class der Wehrhaften.

«Manchmal wird behauptet, Menschen seien nicht mehr Teil der Evolution. Das ist falsch», sagt Evolutionsbiologe Schneider. Umweltstress erhöht auch nachweislich die Mutationsrate in menschlichen Zellen. Krebs kann eine Folge sein. Und Zivilisationsleiden lassen sich evolutionsbiologisch als Anpassungskrankheiten an den Wandel der Lebensbedingungen deuten: Menschen bekommen Diabetes, weil ihr Stoffwechsel nicht an die Zuckerflut der modernen Nahrung adaptiert ist. Sie entwickeln Rückenleiden, weil sie zu lange auf Stühlen sitzen. Das Immunsystem gerät aus der Balance, weil Menschen auf ganz andere Weise Mikroben ausgesetzt sind als dereinst. Heuschnupfen, rheumatoide Arthritis und Neurodermitis entstehen. Auch der Mensch selber hält also mit seinem eigenen Tempo nicht mehr Schritt.

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