Das musst du wissen

  • Es gibt psychologische, soziale und kulturelle Neigungen, die an Verschwörungstheorien glauben lassen.
  • Solche Neigungen führen zu systematischen Denkfehlern bei Verschwörungstheoretikern.
  • Aber vor allem sind deren Positionen eine bewusste, ideologiegetriebene Wahl.

Wenn man die Schilder an Anti-Masken-Demonstrationen, wie der im September in Genf, liest, so findet man ein Durcheinander von Aussagen und Forderungen: Es geht um Masken, Chloroquin, Impfgegnerschaft und sogar ganz wilde Theorien zu Bill Gates und 5G. Wie kann man diese Konvergenz der Verschwörungstheorien erklären?

Um zu verstehen, worum es geht, müssen wir zu dem zurückkehren, was wir unter dem Begriff «Verschwörungstheorie» oder «Verschwörungstheoretiker» verstehen. Es ist eben genau die Neigung, an dieser Art von Überzeugungen festzuhalten, die es geradezu erfordert an mächtige und verborgene Verschwörungen zu glauben. Ich denke, es ist sinnvoller, das Problem auf diese Weise anzugehen als über «Verschwörungstheorien». Denn es wird immer jemand sagen: «Ja, aber es gibt oder gab echte Verschwörungen». Aber das ist nicht das Problem. «Verschwörungstheorien» sind die eine Sache; eine andere Sache sind psychologische, soziale und kulturelle Dispositionen, die dazu führen, das Menschen daran festhalten. Das ist es, was mich interessiert.

Sebastian Dieguez

Sebastian Dieguez forscht am Labor für Kognitions- und Neurowissenschaften der Universität Freiburg. Er ist Autor des Buches «Total Bullshit: au coeur de la post-vérité» («Total Bullshit: Im Herzen der Post-Wahrheit»), das 2018 veröffentlicht wurde, und hat ausführlich über das Thema Verschwörungstheorien geschrieben. Er ist auch für seine satirischen Aktivitäten bekannt, insbesondere in der französischsprachigen Zeitschrift Vigousse.

Die Tatsache, dass Verschwörungstheorien heutzutage auch in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden, ist nicht so überraschend. In einem Umfeld, in dem es ein Überfluss an Informationen gibt, aber auch eine Ungewissheit, wird ein konspiratives Temperament dazu neigen, neu entstehende irrationale Überzeugungen aufzunehmen. Nehmen Sie zum Beispiel die amerikanische QAnon-Bewegung. Es handelt sich um eine Form von «Superverschwörung», die alle anderen umfasst und fälschlicherweise Verbindungen zwischen nicht verwandten Phänomenen wie Impfung, 5G und Kinderhandel sieht. Es macht a priori keinen Sinn, aber wenn es sich um eine Verschwörung handelt, muss man sich nur auf ein grosses Geheimnis berufen, das all diese Ideen miteinander verbinden würde. Da diese Erklärung jedoch per Definition verborgen und unbekannt ist, kann sie wie zu einer Art Schatzsuche und endlosen Ausarbeitungen führen.

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Sie sagen, es gebe psychosoziale Neigungen zu Verschwörungstheorien. Wie wird man ein Verschwörungstheoretiker? Und ab welchem Punkt kann man tatsächlich von Verschwörungstheorie sprechen?

Will man Personen identifizieren, die am ehesten an eine Verschwörungstheorie glauben, dann muss man nach einem Anzeichen schauen: Ob sie bereits an andere Verschwörungstheorien glauben. Aus psychologischer Sicht gibt es Glaubensstrukturen, die die Anhäufung solcher Ideen begünstigen. Wenn wir über wissenschaftliche Theorien sprechen würden, wäre dies nicht überraschend, denn hier gibt es einen gemeinsamen Nenner, und das ist die Realität. Dies ist bei Verschwörungsüberzeugungen aber nicht der Fall. Sie können sehr unterschiedlich sein – tatsächlich scheint es eine implizite Hierarchie von Verschwörungstheorien zu geben. Zum Beispiel macht eine Anti-Impfungs-Haltung, eine alternative Sichtweise der Geschehnisse am 11. September 2001 oder am Tag der Ermordung von JFK für sich genommen, einen nicht gleich auf jedem der genannten Gebiete zu einem Verschwörungstheoretiker. Andererseits zeigen Studien, dass es fast unmöglich ist, sich vorzustellen, dass die Erde flach ist, wenn man nicht bereits an fast alle anderen Verschwörungstheorien glaubt.

Man kann aus allen möglichen Gründen zum Verschwörungstheoretiker werden: eine Neigung zum Misstrauen, mangelnde Bildung, Ängste, Vorurteile, Selbstüberschätzung oder eine Vorliebe dafür, mit seinen Ideen gegen den Strom zu schwimmen. Aber das Risiko ist, das es eskaliert. Dies besonders bei diesen grossen Ereignissen, bei denen sich Masken, 5G, Coronavirus, Antisemitismus, Impfungen und so weiter vermischen. Indem man an der Seite von Menschen demonstriert, deren Überzeugungen man nicht teilt, kann man eine Form der Toleranz gegenüber allen Arten von verrückten und gefährlichen Ideen entwickeln.

Wie könnte man Verschwörungstheorien definieren oder vielleicht das Bild eines Verschwörungstheoretikers zeichnen?

Das Festhalten an diesen verwunderlichen und unterschiedlichen Ideen geschieht sehr schnell, manchmal sogar bevor rationale Erklärungen verfügbar sind, und auf der Grundlage von sehr wenig Wissen. Die meisten Menschen wissen zum Beispiel nicht einmal, was Chloroquin ist. Aber wie bei Gluten oder Glyphosat spielt das Produkt selbst keine Rolle. Die Leute beziehen schnell und nur aufgrund einer vagen Vorstellung Stellung dafür oder dagegen. Verschwörungstheoretiker haben meist eine reaktive Haltung. Der gemeinsame Nenner von Verschwörungstheorien ist auch die Ablehnung offizieller Erklärungen, daher der berühmte Satz «Denke selbst». Man könnte auch sagen, dass es im Populismus eine Verschwörungskomponente gibt, wo Autoritäten und Eliten abgelehnt werden. Dieser Mechanismus findet sich auf andere Art und Weise auch bei bestimmten gefährlichen sektiererischen Entwicklungen. In diesem Rahmen ermöglichen verschwörungstheoretische Argumentationen, dass sich Dinge entwickeln, die gesellschaftlichen und moralischen Codes zuwiderlaufen. In gewisser Weise haben die Verschwörungstheoretiker eine idealisierte, ja sogar naive Vision einer Welt, die frei von allen Formen der Autorität ist.

Aber Vorsicht: Verschwörungstheoretiker sind keine Menschen, die ihres freien Willens beraubt sind oder die durch «Fake News» radikalisiert worden wären. Sie versuchen, sich aus einer Welt zu befreien, die sie nicht wollen, und sich mit Menschen zu identifizieren, die als rebellisch gelten. Sie fallen dann in eine utopische Weltsicht. Wir müssen aufhören zu sagen, dass sie einfach nur Opfer ihrer kognitiven Verzerrungen (systematische Denk- und Wahrnehmungsfehler aufgrund von Annahmen und Vorurteilen Anm. d. Red.) sind! Es gibt psychologische Dispositionen, aber die Position von Verschwörungstheoretikern ist vor allem ideologisch, sie ist nicht einfach das Ergebnis von Denkfehlern. Es ist eine bewusste Wahl der Positionierung im sozialen Raum, die oft an den Hebeln des Narzissmus ansetzt. Es ist ziemlich herablassend, einem Verschwörungstheoretiker erklären zu wollen, dass er ein Opfer kognitiver Verzerrungen ist, weil es sich paradoxerweise oft um sehr gut informierte Personen handelt. Aber es sind nicht diese Informationen, die sie zu Verschwörern machen. Es ist ihre Verschwörungstheorie, die die Art und Weise beeinflusst, wie sie sich informieren.

Sie erwähnten die Rolle der Psychologie, aber auch der Soziologie und der Kultur. Wie werden Verschwörungstheorien aus wissenschaftlicher Perspektive untersucht?

Verschwörungstheorien sind zu einem eigenständigen Forschungsgebiet geworden, und die dafür bereitgestellten Mittel wurden durch europäische Stipendien, Forschungsprogramme usw. aufgestockt. Dies mobilisiert viele verschiedene Disziplinen wie Geschichte, Anthropologie, Soziologie oder Psychologie. Es fördert auch eine gewisse Kontroverse darüber, wie man die Untersuchung des Problems angehen soll. Auf dem Gebiet der Kognitions- und Sozialpsychologie, die mein Forschungsgebiet ist, arbeiten wir hauptsächlich mit Umfragen in der Allgemeinbevölkerung oder manchmal auch in kleineren Bevölkerungsgruppen. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, dass wir nur Zugang zu den Konsumenten von Verschwörungstheorien haben, nicht zu denen, die sie konstruieren. Letztere haben ein Misstrauen gegenüber Wissenschaftlern, was sie von unseren Labors fernhält. Ausserdem analysieren wir digitale Spuren, die uns die sozialen Netzwerke liefern. Letztere verstärken aber auch das Phänomen: Man fragt sich, ob Verschwörungstheorien ohne diese Art von Medium überhaupt existieren würden. Ohne sie wären sie eher wie Gerüchte. Aber das Studium von Gerüchten ist aus soziologischer und psychologischer Sicht eine schwierige Aufgabe, denn ihre Spuren sind sehr flüchtig.

Was können wir tun, wenn jemand, der uns nahesteht, verschwörungstheoretische Äusserungen macht? Sollten wir diese Person ernstnehmen, um ihr das Gegenteil zu beweisen, oder sollten wir uns nicht darum kümmern?

Das ist eine komplizierte Frage, denn sie betrifft den gesellschaftlichen Alltag und liegt im Ermessen eines jeden einzelnen. Es wäre riskant zu glauben, dass es nur einen richtigen Weg gibt. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass man einem sympathischen Familienmitglied mit verschwörungstheoretischen Kommentaren wohlwollend zuhören könnte, um als Familie mit dem Problem umzugehen. Aber dadurch normalisieren Sie den Verschwörungstheoretiker, der eigentlich Gegner braucht, um zu existieren. Wenn Sie seine Worte ernst nehmen, haben Sie ihm Glaubwürdigkeit verliehen. Andererseits können Spott und eine Demütigung aus der Position des Stärkeren heraus kontraproduktiv wirken und seine Position als Opfer, als Aussenseiter rechtfertigen. Denn der Verschwörungstheoretiker weiss, dass seine Haltung nicht dem Mainstream entspricht, dass sie stigmatisiert ist. Diese Position ist sogar gegenläufig konstruiert. Der Verschwörungstheoretiker ist bis zu einem gewissen Grad immun gegen Argumentation und Spott, weil er sich von beidem ernähren kann. Das macht es so schwierig, in diese Position einzudringen.

Um auf den Mythos der flachen Erde zurückzukommen. Dessen Anhänger sind sich sehr wohl bewusst, dass sie sich ausserhalb des Bereichs der rationalen öffentlichen Debatte befinden. Aber sie sind jenseits dieser Debatte, und sie nutzen genau diesen Mechanismus der Opposition aus. Das ist auch der Grund, warum niemand weiss, wie man mit Donald Trump umgehen soll. Es reicht nicht aus, zu beweisen, dass er lügt, um das, was er sagt, auseinanderzunehmen, denn er spielt nicht auf dem gewöhnlichen Terrain der Debatte. Rhetorik gibt es seit der Antike, und wir haben immer noch keine Lösung für dieses Problem gefunden. Was können wir also tun? Ein Fact-Check durch die Presse, Medienerziehung und Gesetzgebung sind nützlich, um den Auswüchsen der Verschwörungstheorien entgegenzuwirken. Aber ich glaube auch, dass es einen Platz für Humor gibt, ohne dabei gleich in Grausamkeit zu verfallen. Verschwörungstheorien lassen sich am besten durch Lachen auflösen. Sich weigern zuzugeben, dass diese Ideen lächerlich und daher lachhaft sind, wäre eine Art Eingeständnis des Scheiterns und würde den Verschwörern auch keinen Gefallen tun.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Unsere Autorin Cornelia Eisenach hat ihn aus dem Französischen übersetzt.

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Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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