Als Irène Schweizer auf die Welt kommt, führt die Welt gerade Krieg. Und das in unmittelbarer Nähe ihres Geburtsorts Schaffhausen. Fliegeralarm. Familie Schweizer muss in den Luftschutzbunker. Mit Baby Irène und der dreijährigen Schwester Lotte in den Armen. Ihr Leben beginnt in einem Versteck. Enden wird es auf den Bühnen dieser Welt.

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Am 1. April 1944 bombardieren die Alliierten Schaffhausen. Zu diesem Zeitpunkt ist Schweizer zweieinhalb Jahre alt. 40 Sekunden lang fallen Brand- und Sprengbomben vom Himmel. 40 Menschen sterben, die Altstadt und der Bahnhof liegen in Trümmern. 40 Millionen US-Dollar Wiedergutmachung werden die USA der Stadt später für die irrtümliche Bombardierung zahlen. Das eigentliche Ziel der Bomberstaffel war nämlich das deutsche Ludwigshafen. Auch nach dem Krieg bleibt Irène nicht von Leid verschont: 1951 stirbt ihr Vater unerwartet im Alter von 49 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt ist Schweizer zehn Jahre alt.

«Vielleicht hat sie als Kind die Geborgenheit vermisst. Dass man für sie Zeit hat», sagte Irènes jüngere Schwester Margrit im Interview mit dem Musikwissenschaftler Christian Broecking. Die Schwester Margrit fährt fort: «Sie hat sich dann wohl einfach in die Musik zurückgezogen.» Und ist darin aufgegangen, wie keine andere.

«Ach, du immer mit deinem Jazz!»

Um sich in diese geheimnisvolle und neue Welt der Musik zurückzuziehen, musste Irène Schweizer anfangs nicht weit reisen. Im Festsaal des elterlichen Landhauses fanden jeden Samstag kulturelle Veranstaltungen statt. Eines Nachmittags mietet eine vierköpfige Studenten-Band den Saal, um Modern Jazz zu spielen. Ab da ist es um «Irenli» geschehen: «Sie spielten Stücke des Dave Brubeck Quartetts», erinnert sich Schweizer, die heute 78-jährig in Zürich wohnt, im Gespräch. «Das war der Wahnsinn, absolut faszinierend, so etwas hatte ich noch nie gehört.»

Kurz darauf beginnt sie damit, die Faszination selbst auszuleben. Sie wechselt die Handorgel und die Handharmonika ihrer Kindertage gegen die Drumsticks und wird Schlagzeugerin in einer Dixieland-Band. Mit 16 gründet sie mit sieben Freunden die Jazz-Gruppierung «Crazy Stokers» – zu Deutsch «verrückte Heizer» – in der sie Klavier spielte. Damit hatte sie ihr Instrument gefunden: Sie wurde Pianistin.

Zusammen mit den Crazy Stokers machte Irène Schweizer das elterliche Landhaus zu einem lokalen Jazz-Zentrum. Zumindest den Festsaal: «Hunderte von Jazz-Freundinnen und Jazz-Freunden strömten zu unseren ersten Auftritten», erinnert sie sich.

Mit 18 Jahren verlässt Irène Schweizer Schaffhausen und zieht nach Zürich. Mit im Gepäck: ihre Liebe zum Klavier und zum Jazz. «Anfangs habe ich mich noch darum bemüht, ein wenig Rock zu hören», erinnert sich Schweizer. «Jimi Hendrix war toll. Mit anderen Musikrichtungen aber konnte ich nichts anfangen. Auch klassische Musik habe ich nicht verfolgt, da ich trotz einigen Musikunterrichtsstunden Mühe mit Notenlesen hatte und eigentlich immer nur Jazz spielen wollte.» Und schliesslich gäbe es im Jazz schon genug zu tun.

Irène Schweizer auf der BühneFrancesca Pfeffer

Irène Schweizer hatte als Jazzmusikerin viele Freiheiten.

Und Irène Schweizer hat getan, was es im Jazz zu tun gibt: Cool Jazz, Bebop, Boogie-Woogie, Modern Jazz, Free Jazz – solo, im Duo, im Trio, im Quartett, im Quintett, in einer Band mit Klarinette, Trompete, Posaune, Tenorsaxofon, Banjo, Bass, Schlagzeug und Klavier. Künstlerisch frei, radikal, avantgardistisch, in unangestrengter Poesie. Dem Jazz und dem Klavier jedoch immer treu. «Ich war musikalisch seit eh und je stur und hörte von meinen Freundinnen und Freunden deswegen manchmal auch das eine oder andere genervte: ‹Ach, du immer mit deinem Jazz!›»

Musikalische Reisen

Bei ihren ersten Auftritten in der Schweiz noch als «Fräulein Schweizer» angekündigt, gewinnt sie 1960 mit den Modern Jazz Preachers das Jazz-Amateurfestival in Zürich. Der erste Preis: ein Herrenhemd.

1961 folgt die erste weite Reise. Nach England, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Um die Liebe zu erkunden – hier lernt sie ihre erste Freundin kennen. Und natürlich: Um Musik zu machen. Es folgen diverse Auftritte. Erst in kleinen Clubs in London. Dann auf Festivals in Deutschland, Belgien, Holland und im legendären Jazzcafé Africana in Zürich. Einige davon solo, einige als Teil des neuen Irène-Schweizer-Trios – ursprünglich bestehend aus ihr, Schlagzeuger Mani Neumeier und Bassist Uli Trepte, ab 1968 mit Schlagzeuger Pierre Favre und Bassist Peter Kowald. Später im Trio mit Kontrabassist Buschi Niebergall und Schlagzeuger Allen Blairman oder dem Saxofonisten Rüdiger Carl und dem Schlagzeuger Louis Moholo. Die Bandkolleginnen und Musikpartner wechselten, das öffentliche Interesse an dem Ausnahmetalent aus Schaffhausen aber wurde immer grösser.

An der Lesbenfront

In der Szene wird Irène Schweizer bald als Wunderpianistin gefeiert – und kritisiert. Denn: Das freie und radikale Spiel Schweizers, das damals in der Schweiz noch eher unbekannt war, gefiel nicht allen. «Es gab in den Clubs immer auch Leute, die uns ablehnten, nichts mit unserer Musik anfangen konnten», erinnert sich Schweizer. Nicht nur in der breiten Gesellschaft, sondern auch in der Szene. «Sie fürchteten um die Wurzeln und die Authentizität des Jazz und meinten, dass unsere Musik weder Hand noch Fuss habe.»

Irène Schweizer am Klavier auf der Bühne mit SchlagzeugerFrancesca Pfeffer

Als Pionierin des Jazz spaltete sie schon früh die Szene, liess sich jedoch nie von ihrem eigenen Weg abbringen. Hier 2013 im Jazzclub Moods Zürich mit Pierre Favre.

Doch das Irène Schweizer Trio bleibt selbstbestimmt, nimmt in München 1967 die erste Langspielplatte auf. Und das nur wenige Monate vor dem Beginn der 68er-Bewegung in der Schweiz und dem Höhepunkt der europaweiten Jugend- und Studentenunruhen, denen in Zürich Konzerte der Rolling Stones und Jimi Hendrix im Hallenstadion vorausgingen. Beide Konzerte endeten in Krawallen mit der Polizei.

Aus der Studentenbewegung 1968 entstand auch die neue autonome Frauenbewegung der Schweiz. «Diese erreichte 1975 einen Höhepunkt, im ersten Internationalen Jahr der Frau», sagt Schweizer, die damals der Homosexuellen Frauengruppe Zürich beitrat und für deren Zeitschrift Lesbenfront schrieb.
Auch in ihrer Musik schlug sich der Kampf für Selbstbestimmung nieder: 1978 veröffentliche die Musikerin Solo-Aufnahmen unter dem Titel «Hexensabbat». Das Cover zeigte Besen und Staubsauger in giftigem Lila.

Dieses politische und gesellschaftliche Engagement von ihr sei eigentlich nicht vorgesehen gewesen, sagt Schweizer. «Ich habe einfach gemerkt, dass ich lesbisch bin und mich dementsprechend informiert und für die Rechte von lesbischen Personen eingesetzt.» Sie als freie Musikerin konnte damals sagen, was sie wollte. Ihre Sexualität war für sie nie ein Hindernis. «Ich habe viele kluge und gute Frauen kennengelernt, das war ein Geschenk. Viele von ihnen jedoch, beispielsweise Lehrerinnen, hätten es nie gewagt, sich zu outen. Nur schon das Wort lesbisch war damals Vielen suspekt.» Ihrem Kampf blieb Schweizer bis heute treu: Auch am Frauenstreik 2019 hat die Pianistin mit 77 Jahren teilgenommen. «So wie eigentlich an jedem Frauenstreik», kommentiert sie.

Taktlos-Festival und Intakt Records

In den 70er und 80er Jahren war die Musik von Irène Schweizer fast überall in Mitteleuropa erhältlich. Nur in einem Land kaum: in der Schweiz. Jahrzehntelang war sie im Ausland bekannter als in der Heimat. Keine Plattenfirma wollte hierzulande die Aufnahmen Schweizers vom ersten Zürcher Taktlos Festival 1984 – einem «Festival für zeitgenössische Musik, Jazz, Free Jazz und improvisierte Musik» – veröffentlichen. Das führte im selben Jahr zur Gründung von Intakt Records. 1986 erscheint die erste Intakt-Platte «Irène Schweizer Live at Taktlos».

Höchste Schweizer Musiker-Ehre

2018 erhält Schweizer, mittlerweile eine Legende, die höchste Auszeichnung, die es in der Schweizer Musikszene gibt: den mit 100 000 Franken dotierten Grand Prix Musik, der vom Schweizer Bundesamt für Kommunikation (BAK) verliehen wird.

Eine Auszeichnung für das Lebenswerk – verliehen vom Staat. Im Falle von Irène Schweizer eine Würdigung mit besonders mächtigem Symbolcharakter. «Die Haltung dieser grossen Musikerin, Avantgardistin, Ikone: links, lesbisch, autonom», sagt Broecking im Gespräch auf die Frage, woher seine Faszination für Schweizer rührt. «Den Lebensweg dieser Impulsgeberin der europäischen Free-Music-Szene, die sich für die Antiapartheidbewegung einsetzt und in der Feminismus- und Lesbenszene aktiv wird.» Eine Auszeichnung für ein Leben, so vielfältig und facettenreich wie der Jazz.

Buchtipp


Christian Broecking: Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik
Broecking Verlag
480 Seiten.
Gebunden mit Schutzumschlag:
CHF 66,90
ISBN 978-3-938763-44-5
Paperback:
CHF 44,90
ISBN 978-3-938763-43-8

Pioniergeist Ostschweiz

Menschen, welche das Leben in der Schweiz und manchmal sogar im Aus­land veränderten: Solche Pio­niere gab und gibt es auch in der Ostschweiz. higgs porträtiert bekannte aber auch unbekannte Persönlich­­keiten, die Pionier­leistungen erbrachten. Wir stöbern in den Archiven, reden mit Nachkommen oder gleich mit den Pionieren und Pionierinnen selber. Diese higgs-Serie wird am Ende zu einem attraktiven Coffee-Table-Buch zusammengefasst – ganz nach dem Vorbild des Vorgänger­projektes «Zürcher Pio­­niergeist».
 
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