Das musst du wissen

  • Internationale Organisationen warnen vor den Umweltauswirkungen des Krieges in der Ukraine.
  • Unter anderem gefährde der Konflikt internationale Klimaziele.
  • Forschende identifizieren nun Orte, an denen Ökosysteme leiden.

Die humanitären Folgen des Krieges in der Ukraine sind schrecklich. Doch die Auswirkungen auf die Umwelt verleihen der Katastrophe eine zusätzliche Dimension: Verschmutzung durch Beschuss von Wohngebieten oder landwirtschaftlichen Flächen, Sabotage von Wasseraufbereitungsanlagen, Gefahr des Austritts von Radioaktivität durch die Besetzung von Atomanlagen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ganz zu schweigen von der Verschmutzung durch die Zerstörung von Industrieanlagen.

Anfang März warnte ein offener Brief, unterzeichnet von mehr als tausend Fachleuten und internationalen Organisationen, vor den Umweltauswirkungen des Krieges in der Ukraine. Carl Bruch, Vorsitzender der Environmental Peacebuilding Association und Erstunterzeichner des Briefes, schreibt:

«Der Schutz der Umwelt in der Ukraine ist keine nebensächliche Sorge. (…) Die russische Invasion hat die Umwelt wiederholt durch vorsätzliche oder unbedachte Handlungen geschädigt. Diese Schäden wiederum verstärken die Auswirkungen auf die Menschenrechte und das Leben der Menschen.»

Um diesen Krieg im Krieg besser zu verstehen, sprach Heidi.news mit Doug Weir, Direktor für Forschung und Politik beim Conflict and Environment Observatory (Ceobs) und Gastwissenschaftler am Londoner King’s College. Zu Beginn der russischen Invasion gehörte Ceobs zu den ersten NGOs, die Umweltschäden ermittelten. Die Organisation zeigt, wo langfristig Land, Wasserläufe und die Luft kontaminiert werden und wo Umweltschäden die Gesundheit der Bewohner beeinträchtigen könnten.

Doug Weir, die Frage nach den Umweltauswirkungen des Krieges in der Ukraine scheint angesichts der menschlichen Kosten fast unanständig zu sein. Warum ist dieses Thema trotzdem so wichtig?

Doug Weir: Es ist schwierig, die Umweltauswirkungen eines Krieges genau zu kennen, wenn man keine Feldforschung betreibt, die erst nach dem Konflikt durchgeführt werden kann. Aber es ist wichtig, dass das Umweltnarrativ von Anfang an präsent ist in der Art und Weise, wie der Konflikt erzählt wird. Dies schafft die Voraussetzungen dafür, dass nachträgliche Bewertungen durchgeführt werden. Mit dem Ceobs arbeiten wir daher daran, Orte zu identifizieren, an denen ein besonderes Risiko besteht: Zum Beispiel durch Toxizität für Ökosysteme, landwirtschaftliche Systeme oder die Zivilbevölkerung. Wir legen Regionen fest, an denen Feldforschung durchgeführt werden muss.

Der Fokus muss also auch auf den Umweltschäden liegen?

Natürlich ist es notwendig, die humanitären Auswirkungen zu untersuchen. Aber wenn man ökologische Bedenken nicht früh genug in den Diskurs einbringt, werden sie tendenziell ignoriert. Die Umwelt wird oft als «stilles Opfer von Konflikten» bezeichnet, auch wenn das ein wenig klischeehaft ist. Herausforderungen wie der Klimawandel oder die Umweltverschmutzung können in Kontexten wie dem Krieg in der Ukraine nicht ignoriert werden.

Auf dem Bild ist die Abdeckung des Kernkraftwerks in Tschernobyl zu sehen. Russische Truppen sollen nach Angaben aus Kiew die Kleinstaddt Slawutytsch nahe des AKW besetzt haben.

Die menschliche Bilanz ist bereits jetzt schrecklich: Die UNO schrieb die meisten zivilen Todesfälle – mehr als sechshundert bis Mitte März, eine zweifellos unterschätzte Zahl – dem Einsatz von Waffen mit grosser Reichweite zu: schwere Artillerie, Mehrfachraketenwerfer, ballistische Raketen. Die meisten dieser Waffen wurden in der Ukraine eingesetzt.

Der russische Militäransatz wiederholt hier ein bereits 2014 im Donbass erprobtes Vorgehen. Dieses besteht darin, geografische Gebiete mit Schwerindustrie anzugreifen, und zwar mit schweren Waffen. In den meisten ukrainischen Städten wie Mariupol oder Kiew befinden sich solche Industrieanlagen in der Nähe von Wohn- und Gewerbegebieten. Da die eingesetzten Waffen ungenau sind, treffen sie wahllos Industrieanlagen, Wohn- oder sogar Gewerbegebiete. Und diese Nähe erhöht das Risiko, dass die Umweltverschmutzung die Bevölkerung in Mitleidenschaft zieht. Seit Beginn des Krieges wurden bereits rund hundert potenziell gefährliche Angriffe auf Industrieanlagen registriert. Doch nicht nur Russland setzt solche Waffen ein. Auch die US-Armee, die zwar über mehr Präzisionswaffen verfügt, hat ihre ballistische Macht im Irak- und Syrienkrieg wahllos eingesetzt.

Bis hin zum grössten Atomkraftwerk Europas, dem AKW Saporischschja, das beschossen wurde und in dem ein Feuer ausbrach. Ist es das erste Mal, dass zivile Atomkraftwerke Ziel eines bewaffneten Konflikts sind?

Es ist technisch gesehen nicht das erste Mal, dass Kernkraftwerke als militärisches Ziel benutzt werden. Es ist eine lange, unrühmliche Geschichte. Während des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak (Anm. d. Red.: 1980-1988), zerstörten beide Länder ihre Atomkraftwerke, glücklicherweise, bevor sie mit Brennstoff versorgt worden waren. Ebenso bombardierte Israel syrische Reaktoren, bevor sie mit Brennstoff beladen werden konnten. Und die USA waren 1991 die ersten, die zwei laufende Testreaktoren im Irak bombardierten.

Im Ukrainekrieg steht die Kernenergie gar im Vordergrund des Konflikts.

Es ist lange her, dass dieser Aspekt bei einem solchen Konflikt in den Fokus rückte. Die Ukraine verfügt über 15 Reaktoren und ist für fünfzig Prozent ihres Stroms von der Kernenergie abhängig. Aussergewöhnlich ist, wie sehr dies die Lücken für den Umgang der internationalen Gemeinschaft mit der Atomkraft offenbart. Der Direktor der internationalen Energieagentur (IAEA) hat versucht, direkt zwischen Russland und der Ukraine zu verhandeln, insbesondere in Bezug auf das Kernkraftwerk Tschernobyl. Das Problem ist, dass die IAEA durch ihr Mandat eingeschränkt ist. Es ist nicht ihre Aufgabe, Sperrzonen um Kraftwerke festzulegen.

Ist es für Russland strategisch vorteilhaft, Orte wie Saporischschja oder Tschernobyl zu kontrollieren?

Im Fall von Tschernobyl stellt sich die Frage nach den Motiven. Natürlich kann man sich immer einen militärischen Vorteil vorstellen, wenn man die Geografie des Ortes ausnutzt, um Panzer aus Weissrussland dorthin zu transportieren, oder einen materiellen Vorteil, wenn man das Kraftwerk besetzt. Aber das Personal fast vier Wochen lang als Geiseln zu halten und das Kraftwerk auch noch beaufsichtigen zu wollen dafür gibt es keine militärische Rechtfertigung.

Und im Fall von Saporischschja?

Was Saporischschja betrifft, mag es auch eine vage militärische Rechtfertigung dafür geben, die Quelle von zwanzig Prozent der Elektrizität des Landes zu kontrollieren. Aber es ist unglaublich, dass es in der Nähe von 3000 im Freien gelagerten abgebrannten Brennstäben zu Beschuss und einem Brand kommen konnte. Das Risiko geht nicht so sehr von dem laufenden Reaktor aus, der durch ein Betongebäude geschützt wird, sondern von der Lagerung der abgebrannten Brennstäbe im Freien, mitten im Kriegsgebiet.

Kommen wir zu den klimatischen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine. Der Militärsektor unterliegt noch keinerlei Beschränkungen durch das Pariser Abkommen. Sollte er nicht mit gutem Beispiel vorangehen?

Das britische Verteidigungsministerium selbst kennt seinen CO₂-Fussabdruck nicht. Das Problem ist, dass der Militärsektor aufgrund des Kyoto-Protokolls und des Pariser Abkommens nicht verpflichtet ist, über seine Emissionen zu berichten. Auf der Industrieseite hingegen leisten die Rüstungsunternehmen in dieser Hinsicht bessere Arbeit als die meisten Regierungen – weil sie dazu gezwungen werden.

In den letzten Jahren ist aber der Druck für mehr Transparenz gewachsen.

Ja die britische oder die Schweizer Armee haben Pläne entwickelt, um CO₂-neutral zu werden. Dies ist ein positives Signal, wenn man bedenkt, dass die Emissionen des Verteidigungsministeriums fünfzig Prozent des CO₂-Fussabdrucks der britischen Regierung ausmachen. Natürlich sind diese Pläne, was die Royal Air Force betrifft, optimistisch. Aber sie zeigen eine Entwicklung: Wir können das Klimaproblem nicht lösen, ohne die Emissionen des Militärs zu berücksichtigen.

Das US-Militär, einer der grössten CO₂-Emittenten, ist führend in Sachen Umweltverschmutzung.

Der US-Militärsektor hat schon lange erkannt, dass das Klima ein nationales Sicherheitsrisiko darstellt. Auch, weil das Land von Hurrikanen und Überschwemmungen schwer getroffen wurde. Es ist aber auch ein Sieg der Aktivisten und Think Tanks, die das Bewusstsein des Pentagons dafür geschärft haben: Vor allem in einem Land, das von Klimaskepsis geprägt ist und in dem das Militär mehr als anderswo das Ohr der Bevölkerung hat. Es geht auch um taktische, finanzielle und strategische Fragen. Weniger fossile Brennstoffe zu verbrauchen, bedeutet auch weniger Ausgaben für Treibstoff und weniger Vorräte, die verwaltet werden müssen.

Wie schneiden hier die Armeen anderer Länder ab?

Die US-Armee hat angesichts ihrer gigantischen CO₂-Emissionen noch einen weiten Weg vor sich, aber sie schneidet besser ab als die russische oder chinesische Armee, die keine Zahlen offenlegen. Der US-Verteidigungssektor macht 700 Milliarden US-Dollar von den zwei Billionen US-Dollar aus, die der gesamte Militärsektor jedes Jahr ausgibt. Das ist viel, aber es bleiben 1300 Milliarden an Militärausgaben durch andere Länder, die nicht dokumentiert werden.

Wie sieht es bei den Mitgliedstaaten der Nato aus?

Im vergangenen Jahr hatten die Mitglieder der Atlantischen Allianz ihr Interesse am Klimaschutz angekündigt. Es wurde erwartet, dass sie nach der UN-Klimakonferenz Ende 2021 mit konkreten Zusagen für den militärischen Sektor erscheinen würden. Aber es ist nichts passiert, ausser für die USA, die diese Bestandsaufnahme bereits macht. Die Nato arbeitet an einer Methodik, die ihren Mitgliedern helfen soll, ihre Emissionen zu berechnen. Es ist wichtig, dass sich dies bis zur UN-Klimakonferenz im November 2022 oder jener im Folgejahr weiterentwickelt, um den Ländern einen gemeinsamen Rahmen zu geben.

Aber all das war vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine. Kann man sagen, dass dieser Konflikt die Klimaziele gefährdet?

Ja, es besteht nun die Gefahr, dass diese Argumente wieder in den Hintergrund gedrängt werden. Ein Beispiel dafür ist die UN-Umweltversammlung Anfang März. Diese legte den Grundstein für ein zukünftiges Abkommen über Plastikverschmutzung. Der Krieg in der Ukraine war der «Elefant im Raum», über den niemand zu sprechen wagte. Dasselbe gilt für die Biodiversitätsziele für die Zeit nach 2020, die derzeit international diskutiert werden: Wie kann man von Ländern, in denen Krieg herrscht, verlangen, dass sie diese Ziele umsetzen? Der Ukraine-Krieg aber, der sich auf die Energie- und Klimapolitik anderer Länder auswirkt, rückt die Umwelt- und Klimaproblematik in den Mittelpunkt. Ich habe mit dem Ceobs über viele Konflikte berichtet, und es ist das erste Mal, dass mir so viele Journalisten Fragen zu den CO2-Emissionen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt stellen. Die Aufmerksamkeit dafür nimmt zu.

Ist Krieg ein blinder Fleck in den internationalen Institutionen, wenn es um Klima- und Umweltfragen geht?

Ja vor allem, weil der rechtliche Rahmen extrem lasch ist. Die Vereinten Nationen müssen in diesem Jahr 28 rechtliche Grundsätze für einen besseren Umweltschutz in bewaffneten Konflikten fertigstellen. Die Diskussionen sollen im April wieder aufgenommen werden. Dies ist eines der wichtigsten Ereignisse seit den internationalen Abkommen im Anschluss an den Einsatz von Agent Orange in Vietnam durch die USA in den 1970er Jahren. Danach sollte es sich um unverbindliche Empfehlungen handeln. Aber es wird ein mächtiger Werkzeugkasten sein, wenn er richtig umgesetzt wird.

Was bedeuten die Umweltschäden von Konflikten für die Zeit danach?

Die CO₂-Auswirkungen von Kriegen, ebenso wie die zivilen und finanziellen Auswirkungen, müssen nicht nur während eines Konflikts berücksichtigt werden sondern auch danach. In Kolumbien stieg die Entwaldung nach dem Ende des bewaffneten Konflikts sprunghaft an. Es ist wichtig zu verstehen, was nach dem Ende des Krieges passiert, damit der Wiederaufbau grüner wird.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

Heidi.news

Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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