Das musst du wissen

  • Hinter der Maskenverweigerung und damit verbundenen Demos stecken tiefere soziale Probleme.
  • Oft geht es bei der Weigerung nicht um die Schutzmassnahmen, sondern um eine Auflehnung gegen Autoritäten.
  • Dahinter steckt ein Zustand der Polarisierung der Gesellschaft, den die Pandemie eher offenlegte statt verursachte.

Anti-Masken-Aktivisten demonstrierten am 29. August in Zürich. In Frankreich und Deutschland hat es aus diesem Grund mehrere Übergriffe gegeben. Was zeigt dieser Trend? Besteht die Gefahr, dass er sich auf die gesamte Gesellschaft überträgt?

Dass sich Menschen weigern eine Maske zu tragen, muss man ernst nehmen. Es ist aber ein Verhalten, das glücklicherweise – zumindest in Europa – nur begrenzt auftritt. Angriffe aus diesem Grund gehen oft mit anderen sozialen Problemen einher: Es handelt sich fast nie um organisierte Aktionen, sondern um gewalttätige Reaktionen gegen diejenigen, die als Autoritäten wahrgenommen werden. Natürlich sollte dieses Phänomen nicht unterschätzt werden. Aber es wäre ebenso gefährlich, eine Fehldarstellung zu konstruieren, wonach sich die ganze Gesellschaft in einer solchen Situation befände. Derzeit herrscht die Haltung vor, dass die Vorschriften beachtet werden.

Bei den Maskenverweigerern handelt es sich um Einzelfälle, die beobachtet und überwacht werden müssen, die aber mit sehr unterschiedlichen Ursachen verbunden sein können. Das Objekt der Maske berührt an sich schon die Identität, weshalb es starke, ja sogar gewalttätige Reaktionen hervorruft. Das Gesicht ist eines der letzten Verbindungselemente um den Kontakt zu anderen Menschen aufrechterhalten. Es zu verbergen kann Unbehagen verursachen. Denn bisher war die Maskierung des Gesichts mit negativen oder aussergewöhnlichen Dingen assoziiert, wie etwa Einbrüchen oder der Fasnacht.

Man muss auch sehen, dass die Pandemie den Zustand der Polarisierung in der Gesellschaft eher offengelegt hat, statt dass sie ihn hervorgerufen hat. Aber wir zahlen auch den Preis für die Unsicherheit, die in diesem Frühjahr zu Widersprüchen zwischen bestimmten Expertenmeinungen, bestimmten Informationen und bestimmten Empfehlungen geführt hat. Bei manchen Menschen gibt es auch eine Verschwörungsdimension, die mit einer Ablehnung der Wissenschaft oder einer Ablehnung von Autorität einhergeht: Wenn sie das Gefühl haben, dass diese sich auch nicht sicher sind, dann sehen die Menschen nicht ein, warum sie eine Massnahme akzeptieren sollten, die Ihre individuelle Freiheit einschränkt. Dann gibt es natürlich auch noch den politischen Vorwand des Protests. Das ist auch der Grund, warum wir hauptsächlich die Ablehnung der am stärksten politisierten Menschen hören.

Fiorenza Gamba


Fiorenza Gamba ist Soziologin und Anthropologin am Institut für soziologische Forschung (IRS) der Universität Genf. Sie ist Mitherausgeberin eines Sammelbandes zur sozialwissenschaftlichen Perspektive auf Covid-19, der im Frühling 2020 im Seismo Verlag auf Deutsch und Französisch erschien. Er ist kostenlos im PDF-Format erhältlich.

Wo wir schon von individuellen Freiheiten sprechen: Wir sehen, wie sich die Situation in den Vereinigten Staaten verschlechtert hat, und insbesondere das Ausmass der Anti-Masken-Bewegungen…

Es stimmt, dass die Situation dort dramatisch ist. In einigen mittelgrossen Städten können die Bürgermeister das Tragen von Masken nicht durchsetzen oder müssen angesichts der Rebellion auf eine bereits bestehende Vorschrift zurückgreifen, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber man muss sehen, dass der amerikanische Kontext sich sehr von dem europäischen unterscheidet. Zuerst ist da die Kluft zwischen den verschiedenen Staaten, dann die zwischen den Metropolen und den kleinen oder mittleren Städten… Aus diesen Gründen ist es schwierig, das Phänomen zu analysieren. Aber es scheint, dass es nicht nur mit der Pandemie zusammenhängt, sondern mit einer allgemeineren Protesthaltung und mit einem besonderen Verhältnis zur Macht, wie auch die Anti-Abtreibungsbewegungen zeigen.

Während des Lockdowns – der in der Schweiz eher ein halber Lockdown war – hatten wir Rituale, wie zum Beispiel den abendlichen Applaus für die Pflegekräfte. Haben wir seither neue Rituale eingeführt, um mit der Pandemie umzugehen?

In diesem Frühjahr sind spontan Rituale entstanden, die sich in der ganzen Welt verbreitet haben, wie zum Beispiel das Anstossen mit geliebten Menschen per Videokonferenz, dem Applaudieren des Pflegepersonals… Über die explizite Dimension hinaus, die darauf abzielt, dem Pflegepersonal zu danken, ist Applaus auch eine physische Handlung, die es einem erlaubt, sich physisch mit anderen zu verbinden. Balkone oder Fenster sind intermediäre Orte, nicht ganz privat, nicht ganz öffentlich, was die Stärke dieser Treffen ausmachte. Mit dem Ende des Lockdowns und der Verbesserung der Gesundheitssituation in den Krankenhäusern ist dieses Ritual vorbei, auch wenn wir eine sehr starke kollektive Erinnerung daran behalten.

Heute haben wir nicht mehr so offensichtliche Gesten. Aber wir schaffen andere, subtilere Rituale. Zum Beispiel die Art und Weise, wie wir unsere Maske tragen, an Hand oder Ellbogen, so dass wir sie nicht berühren, wenn wir sie kurz abnehmen. Es handelt sich dabei um eine Form von Ritualen, die sich normalerweise bei einem Ortswechsel einstellen. Das hilft uns, diesen Wechsel zu materialisieren.

_____________

📬 Das Neuste und Wichtigste aus der Wissenschaft, jeden Dienstag und Donnerstag per E-Mail:
Abonniere hier unseren Newsletter! ✉️

_____________

Hätte die Krisenkommunikation der Behörden verbessert werden können, um diese manchmal heftigen individuellen Reaktionen, die durch Unsicherheit oder widersprüchliche Botschaften hervorgerufen werden, besser zu berücksichtigen?

Die Beantwortung Ihrer Frage ist nicht einfach, denn es gibt kein Wunderrezept. Die Pandemie hat die Zerbrechlichkeit unserer heutigen Gesellschaften ans Licht gebracht. In diesem Frühjahr waren wir einer Vielzahl von manchmal widersprüchlichen Informationen ausgesetzt: den Medien, Empfehlungen zum Gesundheitsschutz und so weiter. Vielleicht sollten wir angesichts der Unsicherheit bereit sein, einfach weniger Aussagen zu treffen. In Italien zum Beispiel änderten sich einige Regeln buchstäblich alle paar Tage. All dies kann das individuelle Unbehagen verstärken. Was wir auch feststellen, ist, dass in Ländern, in denen Gesundheitsmassnahmen als Zwang empfunden werden und es Bussgelder gibt, wie in Frankreich, dies der Bevölkerung ein starkes Gefühl der Unterdrückung vermittelt. Das kann zu einer Auflehnung führen.

Ich denke, die Lösung liegt in der Übernahme von Verantwortung. Wir haben in unserem täglichen Leben eine Verantwortung gegenüber anderen, und wir müssen diese ausweiten. Dies ist nicht nur nützlich, sondern auch befriedigender. Es geht darum, nicht mehr nur das Objekt von Gesundheitsmassnahmen zu sein, sondern ein vollwertiges Subjekt.

Im Hinblick auf die öffentliche Entscheidungsfindung ist es auch wichtig, die Festlegung dieser Massnahmen nicht allein den medizinischen Wissenschaften zu überlassen, wie es in den verschiedenen nationalen Task Forces allzu oft der Fall war. Diese Entscheidungen sollten das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen den medizinischen Wissenschaften und den Sozial- und Humanwissenschaften sein. Eine Vielfalt von Perspektiven kann helfen. In den Anfängen der Aids-Epidemie gab es das gleiche Problem: Alles wurde von biomedizinischen Kenntnissen getrieben, bis die Sozialarbeiter, die mit der betroffenen Bevölkerungsgruppe tatsächlich in Kontakt waren, endlich Gehör fanden. Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Gemeinschaft ist die Erinnerung an diese Krise sehr stark ausgeprägt und könnte wieder mobilisiert werden.

Gegen die Notwendigkeit die Epidemie zu kontrollieren wurde oft das Argument der Privatsphäre oder der individuellen Freiheiten vorgebracht. Wie konstruieren wir ein vernünftiges Gleichgewicht?

Es ist schwierig. Aber wir müssen bedenken, dass ein Nullrisiko unmöglich ist, und manchmal ist es nicht einmal für die Bürger wünschenswert. Zwei Beispiele: Zum einen die älteren Menschen in den Alters- und Pflegeheimen, die gezwungen waren, sich zu isolieren. Einigen machte es zu schaffen, nicht besucht zu werden, und einige sind sogar an diesem unsichtbaren Schmerz gestorben. Wie also sollten wir ältere Menschen schützen? Dies sind komplexe Fragen, die es zu beurteilen gilt. Zum anderen war der Lockdown auch für Kinder eine schwierige Erfahrung. Auch sie haben gelitten, wenn auch anders als Erwachsene.

Der gegenwärtige Wiederaufschwung der Epidemie wirft die Frage nach einer möglichen zweiten Welle auf. Sind wir nach den kollektiven Erfahrungen dieses Frühjahrs bereit dafür?

Wir haben die Erfahrung der ersten Welle. Wir haben gelernt, bestimmte Verhaltensweisen zu verinnerlichen, die das Risiko verkleinern. Zum Beispiel das Abstandhalten und das richtige Tragen einer Maske. Die Behörden waren auch in der Lage zu erkennen, was zu tun oder zu unterlassen ist, um die Menschen nicht in Angst oder Unsicherheit zu stürzen. Die Aussicht auf einen erneuten Lockdown zum Beispiel bereitet vielen Menschen in Europa Angst. Dem müssen die Massnahmen Rechnung tragen.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Unsere Autorin Cornelia Eisenach hat ihn aus dem Französischen übersetzt.

Heidi.news

Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
Alle Beiträge anzeigen
Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende