Das musst du wissen
- Während der Spanischen Grippe in den Jahren 1918 und 1919 starben in der Schweiz rund 25 000 Menschen.
- Zögerliches Vorgehen der Behörden sowie der Landesstreik führten zu einer fatalen zweiten Welle ab Oktober 1918.
- Wann die Pandemie tatsächlich beendet war, ist bis heute unklar.
Die Spanische Grippe war die grösste demografische Katastrophe des letzten Jahrhunderts in der Schweiz. Ausgelöst durch das H1N1-Virus, einem Influenza-A-Virus, forderte sie hierzulande rund 25 000 Tote innerhalb eines Jahres. Das waren etwa 0,6 Prozent der damaligen Bevölkerung. Im Oktober 1918, zu Beginn der zweiten Welle, tönte es von Seite der Behörden ähnlich, wie auch diesen Oktober anlässlich der Corona-Pandemie: «Grippegefahr», warnte die Stadtpolizei Thun am 22. Oktober im Berner Oberländer. Gesunden wurde abgeraten, stark frequentierte Orte aufzusuchen und Kranke wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben. «Im Übrigen wird neuerdings auf die Notwendigkeit häufiger Mundspülungen und Waschung von Händen und Gesicht, sowie auf peinliche Lüftung und Reinhaltung der Wohn- und Schlafräume aufmerksam gemacht.»
Auch in anderer Hinsicht war das Verhalten der Behörden vergleichbar mit heute, wie ein interdisziplinäres Forschungsteam der Universitäten Zürich und Toronto nun in einer neuen Studie zeigt. Denn: Die Behörden agierten angesichts der zweiten Welle ähnlich zögerlich, wie dies während der Corona-Pandemie in der Schweiz geschah. Diese Erkenntnisse sind im Fachmagazin Annals of Internal Medicine erschienen. Die Forschenden schauten sich hierfür die damaligen Fallzahlen Berns genauer an, einer der grössten und bevölkerungsreichsten damaligen Kantone.
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Studie: Public Health Interventions, Epidemic Growth, and Regional Variation of the 1918 Influenza Pandemic Outbreak in a Swiss Canton and Its Greater RegionsKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsEs handelt sich um Assoziationen zwischen den Fallzahlen und den ergriffenen Massnahmen, Kausalität kann nicht bewiesen werden. Ausserdem können die damals gemeldeten Fälle einzelne falsche Meldungen enthalten, also falsch Positive. Auf der anderen Seite könnten auch Fälle nicht gemeldet worden sein. Geschlecht, Alter und sozioökonomischer Status wird in den Berichten nicht spezifiziert. Die Studie kann also Hinweise auf die Konsequenzen der damaligen Massnahmen geben, es braucht aber weitere Forschung, um die Ergebnisse zu bestätigen.Mehr Infos zu dieser Studie...Bern als Vorreiter
Der Ausbruch der Spanischen Grippe im Juli 1918 fiel in die Schlussphase des Ersten Weltkriegs. Bern war unter den ersten Kantonen in der Schweiz, in denen die Grippe ausbrach. Die ersten Fälle traten Ende Juni oder Anfang Juli unter Soldaten im Berner Jura auf. Die Spitze der ersten Welle von Toten lag im Juli und August, Notfallspitäler mussten eingerichtet werden. Rund sechzig Prozent der Toten waren Personen zwischen zwanzig und vierzig Jahren, mehr Männer als Frauen. Mit rund 4600 Influenza-Toten während der gesamten Pandemie besetzte der Kanton Bern zwar einen traurigen Spitzenplatz in der Schweiz. In der Anfangsphase war er jedoch unter den Ersten, die schnell und zentral Massnahmen ergriffen.
Bereits am 16. Juli, rund zwei Wochen nach den ersten Fällen, verhängten die kantonalen Behörden eine Meldepflicht für die neue Influenza-Grippe. Ärzte mussten Fälle also melden. Wer dies unterliess, musste mit einer Busse rechnen. Deshalb sind aus dem Kanton relativ zuverlässige Fallzahlen verfügbar, welche die Forschenden nun analysiert haben. Auch griffen die Behörden schnell mit Massnahmen durch: Ebenfalls am 16. Juli ordnete der Kanton Schulschliessungen in allen betroffenen Gemeinden an. Eine Woche später folgten Versammlungsverbote. Theatervorstellungen, Filmvorführungen, kirchliche Festivitäten und andere Aktivitäten wurden verboten. Eine Maskenempfehlung gab es nicht, auch wenn eine solche in medizinischen Kreisen diskutiert wurde. «Diese altbekannten, nicht-pharmazeutischen Massnahmen haben gut gewirkt und dem Kanton gelang es, die erste Welle rasch unter Kontrolle zu bringen», sagt Kaspar Staub, Co-Erstautor der Studie und Forscher am Institut für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich, im Gespräch.
Zögern aus wirtschaftlichen Gründen
Nach der ersten Welle folgten im September drei Wochen Verschnaufpause, in denen die Fallzahlen trotz Lockerung aller Massnahmen relativ tief blieben. Im Vergleich dazu war die Pause in der Corona-Pandemie im Sommer 2020 also um einiges länger, nämlich etwa von Anfang Juni bis Anfang Oktober.
Sehr ähnlich verlief hingegen der Anfang der zweiten Welle. Sowohl im Jahr 1918 als auch 2020 war die Reaktion der Behörden auf diesen zweiten Anstieg der Fallzahlen zögerlich. Auch damals standen wirtschaftliche Überlegungen im Zentrum. «Man hat die Hoheit über die Massnahmen zuerst den Gemeinden überlassen und langsamer reagiert», erklärt Staub. Erst Ende Oktober übernahm der Kanton wieder das Zepter. Die Massnahmen wurden auch damals stufenweise verschärft und nicht schnell und einheitlich wie anlässlich der ersten Welle. Auch während der Corona-Pandemie agierten die Behörden angesichts der zweiten Welle zögerlich und führten erst Mitte Oktober neue Massnahmen ein.
Zudem machte den Behörden der schweizweite Landesstreik im November einen Strich durch die Rechnung: 250 000 Streikende standen Mitte November auf den Strassen rund 100 000 Soldaten gegenüber. «Die Versammlungsverbote wurden obsolet, weil sie von den Behörden nicht mehr durchgesetzt werden konnten», sagt Staub. «So hat sich dann die zweite Welle so hoch aufgebäumt, dass sie nicht mehr zu stoppen war.» Die zweite Welle war zwei- bis dreimal länger als die erste. «Je länger eine Welle, desto mehr Tote», sagt Staub. Rund achtzig Prozent aller Krankheits- und Todesfälle fielen in diese zweite Welle. Bis zu zwei Drittel der Bevölkerung hatten die Krankheit bis Frühling 1919 durchgemacht.
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Stilles Verschwinden der Pandemie
«Man kann die Erfahrungen aus Zeiten der Spanischen Grippe zwar nicht Eins zu Eins auf heute übertragen», gibt Staub zu bedenken. Der Kontext war ein völlig anderer: Die Bevölkerung hatte gerade einen Krieg hinter sich, die Welt war weniger vernetzt als heute. Und vor allem: Das Virus hatte andere biologische Eigenschaften. Zum Beispiel war die Inkubationszeit viel kürzer, es gab Berichte, wonach Leute am Morgen zur Arbeit gingen und am Nachmittag schon tot waren. Das medizinische Wissen war zudem weit weniger fortgeschritten, was den Kampf gegen die Pandemie erschwerte. «Heute wissen wir genau, mit wem wir es zu tun haben und es konnten enorm schnell Impfungen entwickelt werden», sagt Staub. Dennoch könne man aus der Geschichte lernen: «Man sollte die Erfahrungen aufarbeiten und auf aktuelle Situationen anpassen.» Die Geschichte der Spanischen Grippe in der Schweiz zeige vor allem eines: «Schnelles Agieren scheint besser zu sein als Zögern und Reagieren.»
Doch wie endete die Pandemie der Spanischen Grippe? «Wir wissen nicht genau, wann die Pandemie endete», sagt der Forscher Staub. Es habe in der Schweiz zwar so etwas wie eine dritte Welle im Februar und März 1919 gegeben, aber nicht in allen Regionen der Schweiz. Und: Ein Teil dieser dritten Welle könnte auch die saisonale Influenza gewesen sein. Die Pandemie endete wohl, weil viele Menschen eine Immunität aufgebaut hatten und das Virus zudem in eine weniger aggressive Form mutierte.
Von diesem auslaufenden Verschwinden der Spanischen Grippe kann man aber nicht auf das Ende der Corona-Pandemie schliessen. Zu verschieden sind der Kontext und die Art des Virus. «Wir wissen nicht was passieren wird und wie viele Wellen ohne Impfung noch kommen könnten». Um so wichtiger sei es, die Erfahrungen aus dieser Pandemie für künftige Generationen aufzubereiten und zu überliefern. «Wir sollten unsere gelernten Lektionen weitergeben», so Staub. Und dies trotz Corona-Müdigkeit. «Eine Pandemiemüdigkeit zeigte sich auch 1918 bereits», sagt er. Nach dem Krieg und der Pandemie wollte denn auch jahrzehntelang niemand mehr etwas wissen von der Spanischen Grippe. «Zeitdokumente rückten in den Hintergrund und wurden vielleicht sogar entsorgt, weil man den Dokumenten keine Bedeutung mehr beimass.» Das führt dazu, dass wir heute noch nicht genau wissen, weshalb es zu der verheerenden zweiten Welle von 1918 kam – und weshalb es vor allem junge Männer traf.