Ihren Job kann nur machen, wer nicht schnell friert. Obwohl es draussen sommerlich warm ist, steigt Neige Calonne in einen gefütterten Polaranzug und streift dicke Handschuhe über. Denn an ihrem Arbeitsplatz herrschen Temperaturen von minus 30 Grad Celsius. Die Forscherin arbeitet im Kältelabor des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos. Hier untersucht sie Schnee, den sie und andere Wissenschaftler an verschiedenen Orten der Welt gesammelt und in den Kühlräumen des SLF gelagert haben. Oder solchen, den sie mit einer speziellen Maschine gleich selbst herstellt.
Das Gerät sieht ähnlich aus wie ein Kühlschrank, in dem jedoch feine Nylonfäden aufgespannt sind. Daran bilden sich aus feuchter Luft Eiskristalle. Der Schnee aus dem «Snowmaker» ist nicht von natürlichem Schnee zu unterscheiden. «Das ist sehr wichtig für meine Forschung», sagt Calonne. Denn sie untersucht, wie einzelne Schneekristalle sich mit der Zeit verändern und dabei verschiedene Formen annehmen. Sichtbar macht sie solche Umwandlungsprozesse mit Hilfe eines Computertomografen, der die Kristalle stark vergrössert und dreidimensional darstellt.
So kann man beobachten, wie sich die typischen sternförmigen Flocken von frischem Schnee beispielsweise zu schwammähnlichen oder becherförmigen Strukturen entwickeln. Die sogenannte Metamorphose des Schnees ist abhängig von der Temperatur und findet in der Natur permanent statt. «Sie hat einen Einfluss auf die Entstehung von Lawinen», sagt die Forscherin. Denn bestimmte Kristallformen bilden Schwachschichten in der Schneedecke, sodass diese instabil wird. Deshalb liefert Calonnes Forschung unter anderem die Grundlage, um Modelle für die Lawinenvorhersage zu verbessern.
Von klein auf begeistert
Die 30-Jährige Französin kam vor dreieinhalb Jahren ans SLF. Wann genau ihre Faszination für das kalte Weiss begann, kann sie nicht sagen. Doch schon als Kind sei sie jeden Winter mit der Familie Skifahren gegangen. Von dem 300-Seelen-Dorf in Savoyen, in dem sie aufwuchs, war es bis in die Berge nicht weit. Später studierte sie Umweltwissenschaften und kam dabei mit so verschiedenen Fächern wie Geologie, Hydrologie und Atmosphärenwissenschaften in Kontakt. «Mich hat eigentlich alles interessiert», sagt Calonne. Dass sie sich schliesslich für die Schneeforschung entschieden habe, sei eher Zufall gewesen. «Aber wenn mich ein Thema erst einmal gepackt hat, kann ich mich sehr darin vertiefen».
Dass ihr Vorname ausgerechnet Neige ist, also das französische Wort für Schnee, stört sie ein wenig. «Das ist so klischeehaft». Dabei hat der Name eigentlich einen ganz anderen Ursprung: Es war der Spitzname ihrer Urgrossmutter, die Geneviève hiess. Das konnten deren Enkelkinder aber nicht richtig aussprechen, sodass die Abkürzung Neige entstand.
Während ihrer Doktorarbeit an der Universität Grenoble begann die Forscherin, die mikroskopische Struktur von Schneekristallen zu untersuchen. «Mich fasziniert die Ästhetik des Schnees», sagt Calonne. «Es macht mir Freude, die geometrischen Formen zu betrachten».
Die weisse Pracht geniesst sie auch in ihrer Freizeit, denn im Winter geht es häufig auf Skitouren. «Davos ist dafür der ideale Ausgangspunkt», sagt Calonne. Hier kann sie praktisch vor der Haustüre starten. Dass die kalte Jahreszeit in den Bündner Bergen lange dauert, findet sie keinen Nachteil. «Ich weiss nicht, ob ich an einem Ort vollkommen glücklich sein könnte, wo es keinen Winter gibt».
Anstrengendes Abenteuer
Ihre Kältetauglichkeit bewies die Forscherin auch während einer einmonatigen Grönland-Expedition. Dort hat sie zusammen mit weiteren Forschern des SLF Radar-Messungen der Schneedecke durchgeführt und Proben gesammelt. In einer Woche legte das Team 100 Kilometer auf Skiern und mit Schneemobilen zurück und schleppte dabei Messgeräte, Zelte und Verpflegung mit sich. «Wir hatten Pech mit dem Wetter», sagt Calonne. «Bei Schneeregen und starkem Wind kamen wir kaum voran, unsere Kleidung war innerhalb kürzester Zeit nass und trocknete die ganze Woche über nicht mehr.»
Abends, nach dem Aufstellen der Zelte, mussten die Forscher stundenlang Schnee schmelzen, um genügend Trinkwasser zu bekommen. So begannen die Tage um 6:30 Uhr und endeten selten vor Mitternacht. «Es war schon ziemlich anstrengend, aber ich war total motiviert», sagt die Forscherin. «So eine Herausforderung verleiht mir viel Energie». Geholfen habe auch, dass die Stimmung im Team sehr positiv war. «In einer so harschen Umgebung muss man sich wirklich aufeinander verlassen können».
Sie schwärmt von ihrer Anstellung am SLF: «Die Arbeitsbedingungen hier sind sehr gut». Ohnehin empfindet sie sich in ihrem Job als privilegiert: «Ich tue das, was mich wirklich interessiert und habe dabei viele Freiheiten». Ihr Ziel ist es, eine wissenschaftliche Karriere in der Schneeforschung zu machen. Gemeinsam mit ihrem Freund möchte Calonne nächstes Jahr in die USA gehen. Sie freut sich darauf, ein neues Land kennen zu lernen. Und auf den Schnee in den Rocky Mountains, der dort besonders pulvrig und deshalb perfekt zum Skifahren ist.