Das musst du wissen
- Wer auf der Intensivstation behandelt wurde, hat ein hohes Risiko, noch Monate später im Alltag eingeschränkt zu sein.
- Langzeitfolgen können unabhängig von Alter, Krankheit und Behandlung in bis zu 70 Prozent der Fälle auftreten.
- An den Spitälern in der Schweiz sollen Prävention und Nachsorge-Konzepte den Betroffenen helfen, damit klarzukommen.
Man stelle sich vor: Eine Bürokraft – Anfang vierzig und kerngesund – steht voll im Berufsleben. Doch auf eine unliebsame Begegnung mit dem Tram folgen mehrere Tage Intensivstation und einige Wochen Reha. Vermeintlich genesen, will die Person nach dem Unfall wieder in ihren Beruf einsteigen. Doch sehr schnell merkt sie: Acht Stunden hochkonzentriertes Arbeiten sind unmöglich geworden – nach anderthalb Stunden ist sie völlig erschöpft. Die Aufmerksamkeit im Meeting mit schnellen Wortwechseln geht verloren. Auch muss sie nun mehrmals überlegen, an wen sie noch gleich die wichtige Mail schicken sollte – sie ist vergesslich geworden.
«Manche jungen Menschen müssen deswegen ihren Beruf aufgeben», sagt Christian Emsden, der seit bald zwanzig Jahren als Intensivpfleger arbeitet. Das Beispiel, das der Pflegeexperte am Unispital Basel anführt, ist allerdings kein Einzelfall: Bei vielen Menschen, die auf der Intensivstation behandelt werden mussten, sind kognitive Langzeitfolgen zu beobachten. Dies bestätigt beispielsweise eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2013. Die Forschenden untersuchten rund 800 Personen, die auf Intensivstationen behandelt wurden. Unabhängig von der Art der Krankheit, Behandlung und dem Alter wurden drei Monaten nach Entlassung von der Intensivstation bei fast siebzig Prozent kognitive Einschränkungen festgestellt, nach einem Jahr immer noch bei rund sechzig Prozent. Jede vierte Person war dabei nach einem Jahr noch so eingeschränkt wie bei einer milden Alzheimer-Demenz – sie hatten also beispielsweise Mühe, Wörter zu finden, oder verlegten Dinge. Bei fast der Hälfte wurden Einschränkungen wie nach einem mittelschweren Schädel-Hirn-Trauma beobachtet, was den eingangs erwähnten Symptomen wie Konzentrations- oder Aufmerksamkeitsstörungen entspricht.
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Studie: Name der Studie: Long-term cognitive impairment after critical illnessKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Studie untersucht die Häufigkeit kognitiver Beeinträchtigungen von Personen, die wegen einer kritischen Erkrankung auf der Intensivstation waren. Im Gegensatz zu anderen Studien wird nicht zwischen medizinischen und chirurgischen IPS-Aufenthalten oder nach Art der Krankheit unterschieden, was die Studie für die Gesamtbevölkerung repräsentativer macht. Die Forschenden konnten allerdings nicht herausfinden, wie ausgeprägt die kognitiven Fähigkeiten der Testpersonen vor der Erkrankung waren. Deshalb wurden Personen mit bestehenden Beeinträchtigungen wie Demenz aus der Studie ausgeschlossen. Die Studie stellt fest, dass kognitive Einschränkungen häufig nach IPS-Aufenthalten auftreten. Sie untersucht allerdings nicht, wie die kognitiven Einschränkungen entstehen – es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass diese auch andere Gründe haben.Mehr Infos zu dieser Studie...Dass Aufenthalte auf der Intensivstation zu solchen kognitiven Langzeitfolgen führen können, ist erst seit rund zwanzig Jahren bekannt. Und seit zehn Jahren haben sie auch einen Namen: Post-Intensive-Care-Syndrome (PICS). Die Langzeitfolgen umfassen dabei nicht nur kognitive, sondern oft auch psychische und sogar physische Einschränkungen. Gar als «unerkannte Pandemie» bezeichneten Mitglieder der Europäische Akademie für Rehabilitationsmedizin das PICS. In einem im Fachmagazin Journal of Rehabilitation Medicine erschienenen Kommentar forderte sie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) daher dazu auf, einheitliche Regeln zum Erkennen des PICS zu erstellen.
Aus ihrem Kommentar spricht auch die Sorge, dass durch die Covid-Pandemie die vielseitigen Langzeitfolgen des PICS noch mehr Menschen betreffen. Einfach, weil durch Covid viele Leute auf den Intensivstationen landen. Mittlerweile zeigen Studien, dass auch eine Covid-Erkrankung längerfristig zu Konzentrations- und Gedächtnisstörungen führen können. Hinzu kommt, dass schwere Covid-Erkrankungen oft zu akutem Lungenversagen führen, was wiederum als grosses Risiko für kognitive Langzeitfolgen gilt. Eine belgische Studie hat herausgefunden, dass fast die Hälfte der Patientinnen und Patienten, die wegen Covid auf der Intensivstation waren, relevante kognitive Einschränkungen zeigt. Auch die physischen und psychischen Langzeitfolgen – Depressionen, Angststörungen, Müdigkeit oder Gelenkschmerzen – treten nach Corona-Intensivbehandlungen gemäss einer niederländischen Studie sehr häufig auf. Die Folgen sind aber nicht nur gesundheitlicher Natur: Mittelfristig wirke sich das PICS auch auf die Volkswirtschaft aus, sagt Christian Emsden. «Schliesslich können junge Menschen dadurch nicht mehr in ihren Beruf zurückkehren.»
Kritisch Kranke erleben den Aufenthalt im Delirium
Was aber passiert auf der Intensivstation, dass Menschen noch Monate oder Jahre später in ihrem Alltag eingeschränkt sind? Auf der Intensivstation werden Personen behandelt, wenn es wirklich ernst wird – zum Beispiel nach schweren Unfällen oder mit schlimmen Krankheiten wie Blutvergiftungen oder akutem Lungenversagen. Diese Krankheiten wirken sich auch auf das Gehirn aus. Beim Lungenversagen wird es nicht mit genügend Sauerstoff versorgt, bei einer Blutvergiftung entzündet es sich mitunter. Diese Entzündung im Gehirn greift nicht nur die Nervenzellen an, sondern bringt Botenstoffe durcheinander und kann dadurch auch ein sogenanntes Delir auslösen, einen akuten Verwirrtheitszustand, der mehrere Tage andauern kann – in manchen Fällen auch Wochen.
Das Delir ist ein Schlüsselrisiko für kognitive Langzeitfolgen. Die Verwirrtheit ist schon fast eine Begleiterscheinung der Intensivstation: Das Delir tritt bei bis zu achtzig Prozent der Patientinnen und Patienten auf. Ein Grund: Stress – denn Anspannung, Angst, Lärm und Hektik in einer fremden Umgebung sind auf der Intensivstation unvermeidbar. «Das Gehirn gerät dadurch noch mehr aus dem Takt», sagt Christian Emsden, «als würde man bei einem Motor, der nicht rund läuft, noch das falsche Benzin reinschütten.» Inwieweit das Delir das Hirn schädigt, wird rege erforscht. Was bisher klar ist: Je schwerer und langanhaltender Delir und Krankheit sind, desto schwerer und langanhaltender sind auch die kognitiven Langzeitfolgen.
Auf den Intensivstationen versuchen die Behandlungsteams deshalb mit unterschiedlichen Mitteln, einem Delir entgegenzuwirken. So soll Sauerstoffmangel verhindert werden und es gibt auch gewisse Medikamente, welche ein Delir abdämpfen. Doch beide Behandlungsarten haben ihre Tücken: Die Beatmungstherapie hat ungünstige Nebenwirkungen. Und gewisse Beruhigungsmedikamente wie Benzodiazepine greifen massiv in die Prozesse im Gehirn ein, was wiederum die kognitiven Langzeitfolgen begünstigen kann. «Generell kann man sagen, dass einige Dinge, die auf der Intensivstation zur Behandlung notwendig sind, Körper und Gehirn nicht guttun», sagt Christian Emsden.
Schweizer Spitäler wollen Langzeitfolgen verhindern
Deshalb gilt beispielsweise für Beruhigungsmedikamente und die Dauer der künstlichen Beatmung: So viel und so lange wie nötig, aber so wenig und so kurz wie möglich. Wenn das Delir trotzdem auftritt, sind die Pflegenden geschult, damit umzugehen. «Wir platzieren eine Uhr und einen Zettel mit Ort, Wochentag und Datum an den Intensivbetten, damit Patientinnen und Patienten so gut es geht selbst zur Realität zurückfinden können – das kann helfen, ein Delir zu durchbrechen», erzählt der Pflegeexperte. Auch eine Frühmobilisierung kann helfen, Langzeitfolgen zu verhindern: Kritisch Kranke werden oft schon mit dem Beatmungsschlauch an den Bettrand oder in den Lehnstuhl gesetzt, um die eigenen Muskeln wieder zu benutzen. «Wir unternehmen alles, um so schnell wie möglich wieder Normalität herzustellen», sagt Christian Emsden.
Wie viel Normalität ist möglich, wenn man sich Monate nach der Erkrankung keine fünf Minuten beim Zeitunglesen konzentrieren kann? Der Umgang mit den kognitiven Beeinträchtigungen fällt vielen Menschen schwer – doch auch hier wird Unterstützung geboten. Am Universitätsspital Basel werden viele Betroffene, die lange auf der Intensivstation lagen, in eine geführte Nachsorge-Sprechstunde eingeladen. «Wir nehmen uns neunzig Minuten Zeit und schauen, welche Langzeitfolgen vorhanden sind und geben Therapie- und Reha-Empfehlungen», erzählt Christian Emsden. Er betont, dass auch Angehörige miteinbezogen werden, da diese durch das Miterleben der kritischen Erkrankung nicht selten ebenfalls vor allem von psychischen Langzeitfolgen betroffen sind.
An zahlreichen anderen Schweizer Spitälern arbeitet man derweil mittlerweile mit IPS-Tagebüchern, die helfen sollen, die eigene Krankheit und Behandlung besser zu verstehen. Trotz hohem Zeit- und Kostenaufwand widmen sich laut Christian Emsden mittlerweile alle Spitäler in der Schweiz der PICS-Nachsorge. Denn diese ist erfolgreich, wie eine Meta-Analyse bestätigt: Nachsorgeangebote nach dem Intensivaufenthalt halfen, insbesondere psychische Langzeitfolgen wie Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen zu reduzieren – und insbesondere die Lebensqualität der Betroffenen zu erhöhen. Aber auch bei kognitiven Langzeitfolgen kann die Nachsorge Unterstützung bieten, weiss Christian Emsden: Ein wichtiger erster Schritt sei, den Betroffenen zu erklären, woher die Einschränkungen kommen. Denn für viele sind diese Gefahren für das Gehirn ein blinder Fleck.