David Kertzer ist nicht irgendein US-Historiker, der die Amtszeit vergangener Päpste untersucht. Mit seinem Buch «Der Papst und Mussolini» stiess er 2015 auf grosse Beachtung und erhielt dafür den Pulitzer-Preis für Biografie. In diesem Buch zeigt er auf, wie Papst Pius XI. und Mussolini eine Ablehnung von Demokratie, Parlamentarismus und Religionsfreiheit verband. Kertzer forscht seit 1998 in den vatikanischen Archiven und so ist es nicht erstaunlich, dass er sich auch für die Rolle des Nachfolgers von Papst Pius XI., Papst Pius XII., während des Zweiten Weltkrieges brennend interessiert. Eugenio Pacelli war von März 1939 bis zu seinem Tod im Oktober 1958 Papst. 1939 wurde die Familie Pacelli auf Vorschlag von Mussolini, der ab 1925 als Führer des Faschismus Italien regierte, in den erblichen italienischen Fürstenstand erhoben.

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Als Papst Franziskus vor einem Jahr die baldige Öffnung des versiegelten Archivs von Pius XII. anordnete, sagte er: «Die Kirche fürchtet sich nicht vor der Geschichte.» Das Pontifikat von Pius XII. habe «Momente ernster Schwierigkeiten» und «gequälte Entscheidungen» beinhaltet. Denn die Reaktion von Pius XII. auf den Nationalsozialismus und den Holocaust war und ist immer noch Gegenstand heftiger Debatten. Dabei haben sich zwei Lager gebildet: Pius XII. wird als Papst gesehen, der beschämend geschwiegen habe, als die Nazis die Juden vernichteten. Andere behaupten, Papst Pius XII. habe hinter den Kulissen gewirkt, um Tausende von Juden und andere Verfolgte zu retten. Geöffnet wurde das Archiv schliesslich am 2. März, aber aufgrund der COVID-19-Pandemie am 5. März bis Anfang Juni wieder geschlossen.

Öffentliches Stillschweigen

In einem Artikel, der im US-amerikanischen Monatsmagazin The Atlantic unter dem Titel «Der Papst, die Juden und die Geheimnisse in den Archiven» erschienen ist, beschreibt Kertzer die privaten Diskussionen, die hinter dem Schweigen von Papst Pius XII. über die Deportation der Juden Roms stehen. Konkret geht es um ein Memorandum, das Papst Pius, der auch als Bischof von Rom amtete, davon abriet, formell zu protestieren, als die Gestapo am 16. Oktober 1943 um 1000 römische Juden zur Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz zusammentrieb.

Bereits 1965 hatte Papst Paul VI. die Herausgabe einiger offizieller vatikanischer Aufzeichnungen aus der Kriegszeit angeordnet. Grund war Rolf Hochhuths Theaterstück «Der Stellvertreter» von 1963, das den Papst angriff, weil er Hitler nicht öffentlich verurteilt hatte. In der Folge wurden von vier Jesuiten zwischen 1965 und 1981 mehre Bände mit Dokumenten aus dem Pontifikat Pius XII. veröffentlicht, die jedoch von vielen als selektiv und unzureichend kritisiert wurden.

Das von Kertzer zitierte Memorandum aus dem Jahr 1943 ist nicht in diesen Bänden enthalten. Das nähre den Verdacht, dass die vier Jesuiten möglicherweise abgeneigt gewesen seien, Dokumente zu veröffentlichen, die den Papst und den Vatikan belasten würden, glaubt Kertzer. Weiter stiess er in den wenigen Tagen der Sichtung auf Dokumente, die er als «von antisemitischer Sprache durchdrungen» beschreibt. So teilte der Priester Pietro Tacchi Venturi als enger Berater Papst Pius XII. mit, dass Mussolinis Rassengesetze «ausreichend seien, um die winzige jüdische Minderheit in ihren angemessenen Grenzen zu halten».

Kertzer greift in seinem vergangene Woche erschienenen Artikel auch den Fall von Robert und Gérald Finaly auf. Die zwei französischen Brüder verloren ihre Eltern im Holocaust. Die Kinder wurden von Katholiken versteckt und getauft. Später weigerte sich die katholische Kirche, die zwei Jungen ihren jüdischen Verwandten zu übergeben. Kertzer zitiert bisher unbekannte Dokumente, die vermuten lassen, dass der Vatikan direkt an den Bemühungen beteiligt war, zu verhindern, dass die Brüder an ihre Verwandten übergeben wurden. Die Kirche glaubte, dass die Jungen in ihrem neuen Glauben erzogen werden sollten. Die Familie setzte sich schliesslich durch, und die Brüder konnten nach Israel ausreisen, wo sie noch heute leben.

Die Tiefe der Materie erkennen

Die Veröffentlichung des Historikers Kertzer stösst auf Kritik. Die Eile, Resultate aus den soeben geöffneten Archiven zu präsentieren, könne zu einem selektiven Verständnis der Ereignisse führen, heisst es. Prominentester Kritiker ist Matteo Luigi Napolitano, Geschichtsprofessor an der Universität von Molise, Autor mehrerer Bücher über Pius XII. und ein Delegierter des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften. Eines seiner Bücher trägt den Titel «Der Papst, der die Juden rettete», das er zusammen mit Andrea Tornielli 2004 veröffentlichte. Tornielli ist seit Anfang 2019 päpstlicher Mediendirektor und für die inhaltliche Koordination sämtlicher Medien des Vatikans verantwortlich. «Man kann nicht einen Knüller nach dem anderen veröffentlichen, nur weil man ein paar Tage im Archiv war», gab Napolitano zu Protokoll. «Das ist nicht die Art zu arbeiten. Es ist keine historische Methode», kritisiert er.

Ungewollt widerspricht er damit dem Archivar des vatikanischen Staatssekretariats Johan Ickx. Dieser sagte, spätestens ab dem 2. März 2020 werde Papst Pius XII. auch vor der Weltöffentlichkeit rehabilitiert werden. Das war am 27. Januar in New York. Der Ständige Beobachter des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen, Erzbischof Gabriele Caccia, hatte damals am 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz die Konferenz «Der Vatikan und der Holocaust» organisiert. Gesprochen hat dort neben Johan Ickx auch Matteo Luigi Napolitano. Das Ringen darum, wie Papst Pius XII. im Rückblick zu sehen ist, wird noch andauern. Trotz Entsiegelung der Archive sind noch nicht alle Dokumente zugänglich, da sie noch digitalisiert und inventarisiert werden.

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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