Es müsste ein neuer Bleuler kommen, wünscht sich Daniel Hell, ehemaliger ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, bekannt als Burghölzli. Denn Eugen Bleuler, von 1898 bis 1927 ebenfalls Burghölzli Direktor, beobachtete die Patienten nicht distanziert, sondern nahm Anteil am kranken Menschen. «Er wollte das Los von psychisch Kranken durch ein tieferes Verständnis ihrer Problematik verbessern», sagt Hell. Heute hingegen stecke die Psychiatrie wieder in einer empirischen Phase, die den Patienten vermehrt zum Objekt mache. «Die Situation erinnert mich an den Anfang des 20. Jahrhunderts, bevor sich Bleuler durchsetzte.» Wie damals betrachte man heute psychische Störungen weitgehend als Hirnstörung. Von der Psychodynamik, dem Zusammenspiel zwischen bewussten und unbewussten seelischen Prozessen, sei man wieder abgewichen. Bildgebende Verfahren und standardisierte Tests sollen klare Messwerte liefern. «Dabei ist alles viel komplexer», urteilt Hell: «Jeder Patient ist persönlich vor seinem psychosozialen und biologischen Hintergrund zu verstehen.»

Bleuler wollte das Los von psychisch Kranken durch ein tieferes Verständnis ihrer Problematik verbessern.

Bleulers Engagement für die Kranken hatte einen naheliegenden Grund: Der 1857 in Zollikon geborene Bub erlebte, wie seine fünf Jahre ältere Schwester psychisch erkrankte und vorübergehend im Burghölzli hospitalisiert wurde. Vermutlich deshalb studierte er in Zürich Medizin und arbeitete dann als Assistenzarzt in psychiatrischen Kliniken. 1886 wurde er Direktor der Pflegeanstalt Rheinau. Hier lebte Bleuler, der aus bäuerlichen Verhältnissen stammte, mit den Kranken. Er arbeitete mit ihnen auf dem Feld, wanderte und spielte mit ihnen. Auf Tausenden von Notizzetteln hielt er Beobachtungen, Patientenworte und eigene Überlegungen fest. Als er im Alter von 41 Jahren zum Burghölzli-Direktor gewählt wurde, nahm er seine inzwischen chronisch kranke Schwester zu sich in seine Dienstwohnung.

Eugen Bleuler erkannte, dass in der Psyche nicht immer klar zu trennen ist zwischen gesund und krank.Wikimedia Commons

Eugen Bleuler erkannte, dass in der Psyche nicht immer klar zu trennen ist zwischen gesund und krank.

Wohl aufgrund seiner Erfahrungen mit den Patienten in Rheinau und seiner Schwester schuf er den Krankheitsbegriff «Schizophrenie» aus dem Griechischen «schizein» für spalten und «phrenos» für Geist. Denn «die Zerreissung oder Spaltung der psychischen Funktionen» seien «ein hervorragendes Symptom» für diese Krankheit, begründete Bleuler seine Begriffswahl. Eine Schizophrenie kann sich durch Störungen der Wahrnehmung, im Denken und Fühlen oder dem Antrieb und Erleben der eigenen Person zeigen. Zuvor sprachen die Fachleute von Dementia praecox, der frühzeitigen Demenz, die sie als unheilbar betrachteten. «Bleuler war ein Angehöriger», sagt Hell. Ihm sei klar gewesen, dass es sich bei seiner Schwester nicht um Demenz handelte. «Er hat nicht nur einen neuen Begriff geprägt, sondern ihn auch mit einer eigenen Lehre verbunden», so Hell. Bleuler habe gezeigt, dass schizophrene Störungen meist nicht zum Verlust des geistigen Lebens führten und dass man Symptome wie Verfolgungs- oder Vergiftungswahn verstehen könne. Sein Schizophrenie-Lehrbuch aus dem Jahr 1911 machte Bleuler international bekannt. «Er verstand es aber auch, Mitarbeiter anzuziehen, die selber wiederum weltbekannt wurden», sagt Hell. Der berühmteste war Carl Gustav Jung, der als 25-jähriger im Jahr 1900 Bleulers Assistent und später dessen Stellvertreter am Burghölzli wurde.

Nach Carl Gustav Jung muss der Mensch scheinbar Gegensätzliches wie Gefühl und Verstand akzeptieren, um zu reifen.Wikimedia Commons

Nach Carl Gustav Jung muss der Mensch scheinbar Gegensätzliches wie Gefühl und Verstand akzeptieren, um zu reifen.

Zu jener Zeit entwickelte Sigmund Freud in Wien die Psychoanalyse. Bleuler nahm als erster Klinikchef in Europa Freuds Gedanken auf, die auch Jung interessierten. Zusammen mit seinem Team machte Bleuler praktische Erfahrungen, wie er berichtete: «Die Ärzte des Burghölzli haben einander nicht nur die Träume ausgelegt, sie haben jahrelang auf jedes Komplexzeichen aufgepasst, das gegeben wurde: Versprechen, Verschreiben, ein Wort über die Linie schreiben, symbolische Handlungen, unbewusste Melodien summen, vergessen, usw. Auf diese Weise haben wir einander kennen gelernt.»

Der Klinikdirektor und sein Stellvertreter hätten kaum gegensätzlicher sein können: Der kleine, knorrige Bleuler galt als steif und nüchtern. «Das Exotische lag ihm nicht», sagt Hell. Jung hingegen hatte eine imposante Statur, war flexibel, beredt und galt als Frauenheld. «Die beiden Charaktere haben sich nie ganz ins Herz geschlossen», glaubt Hell. 1909 kündigte Jung seine Stelle im Burghölzli, angeblich weil er sich vermehrt der wissenschaftlichen Arbeit widmen wollte. Mitgespielt haben mag, dass der verheiratete Jung ein sexuelles Verhältnis mit einer Patientin hatte, was sein Chef kaum guthiess. Auch mit Freud überwarf sich Jung 1912. Als Privatgelehrter in Küsnacht am Zürichsee entwickelte er seine eigene Theorie, die er «analytische Psychologie» nannte als Abgrenzung zu Freuds Psychoanalyse.

«Die Ärzte des Burghölzli haben einander die Träume ausgelegt (…). Auf diese Weise haben wir einander kennen gelernt.»Eugen Bleuler

Nach Jung könne nur das Akzeptieren und Integrieren von scheinbar Gegensätzlichem – wie Natur und Geist, Gefühl und Verstand, Bewusstem und Unbewusstem – einen Menschen reifen und heilen lassen, erklärt Hell. Manche von Jung geprägten Begriffe bilden denn auch Gegensatzpaare wie Introversion und Extraversion als Persönlichkeitszüge oder Anima und Animus als innere Seelenbilder, so genannte Archetypen. «Der Schatten» steht für die ins Dunkle verdrängte Seite des Menschen, «Persona» ist das falsche Selbst, die Maske, die man sich aufsetzt, um den Normen zu entsprechen. Um «Schatten» und «Persona» zu erkennen, entwickelte Jung die «aktive Imagination», bei der man nicht nur träumt, sondern im Wachzustand phantasiert.

In die Kritik gelangte Jung, weil er sich 1934 ungeschickt über den Unterschied zwischen «Germanen» und «Juden» äusserte. «Er hat sich in der Anfangszeit zu wenig vom Nationalsozialismus distanziert – ein Verhalten, das man nicht leicht entschuldigen kann», sagt Hell. Antisemitismus konnte man Jung aber nicht vorwerfen; denn er arbeitete auch eng mit jüdischen Kollegen zusammen. Auch sein früherer Vorgesetzter Bleuler wurde wegen rassistischer und vor allem eugenischer Äusserungen kritisiert. «Er hat tatsächlich eugenische Positionen vertreten», sagt Hell, «aber er hat sich in seiner praktischen Klinikarbeit nicht daran gehalten.»

Zu den weltbekannten Bleuler-Schülern zählt ein Mann, der 1910 einen bemerkenswerten Brief verfasste. Der 26 Jährige hatte die Vorlesungen des Burghölzli-Direktors an der Universität Zürich besucht, aber auch in Dijon, Berlin sowie dem westrussischen Kazan studiert und arbeitete damals als Assistenzarzt an der Thurgauischen Irrenanstalt Münsterlingen. Er wollte seine Doktorarbeit bei Bleuler schreiben und überhäufte den Professor in seinem Brief mit einer Fülle von Themenvorschlägen: angefangen beim russischen Dichter Dostojewski, der an Epilepsie litt, über bestimmte Halluzinationen bis zu einem Lehrer, der wegen Sittlichkeitsdelikten angeklagt war. Man einigte sich auf die Halluzinationen als Doktorarbeit, die der junge Psychiater zwei Jahre später erfolgreich abschloss. Sein Name: Hermann Rorschach.

Hermann Rorschach entwickelte den Tintenklecks-Test zur Bestimmung von Wahrnehmungsvermögen und Intelligenz.Wikimedia Commons

Hermann Rorschach entwickelte den Tintenklecks-Test zur Bestimmung von Wahrnehmungsvermögen und Intelligenz.

Schon als Gymnasiast hatte der Sohn eines Zeichenlehrers den Übernamen «Klex». Sein Psychotest, der auf Tintenklecksbildern beruhte, machte Rorschach so berühmt, dass sich 70 Jahre nach seinem Tod eine US-amerikanische Rockband Rorschach Test taufte. Vermutlich hatte Rorschach schon im Rahmen seiner Doktorarbeit mit Tintenklecksen experimentiert; er veröffentlichte seine Arbeit aber erst zehn Jahre später.

Der Rorschach-Test besteht aus zehn Tafeln mit symmetrischen Klecksen, welche die Testperson deuten muss. Die Reaktionszeit, Handhabung und Interpretation der mehrdeutigen Bilder soll dem Fachmann Aufschluss über die Persönlichkeit und allfällige Denkstörungen eines Patienten geben. «In meiner Zeit als Assistenzarzt, also in den 1970er-Jahren, war dies der zentrale Test», erinnert sich Hell. Heute werde das Verfahren in der Schweiz nur noch selten verwendet. In den USA gewinne es aber wieder an Boden.

Was sehen Sie hier? Bloss einen Tintenklecks?Hermann Rorschach

Was sehen Sie hier? Bloss einen Tintenklecks?

Rorschach habe seinen Test praktisch im Alleingang ohne Mithilfe von Bleuler entwickelt, erzählt Hell. Bleuler interessierte sich aber sehr dafür und testete sogar seine fünf Kinder damit. Dazu hatte ihm sein ehemaliger Student genaue Anweisungen erteilt. «Rorschach hatte eine sehr bestimmte, gezielte Art», charakterisiert ihn Hell, «auch wenn er in seinem Leben nicht besonders konstant war.» Mit seiner Ehefrau, der russischen Ärztin Olga Rorschach-Stempelin, wollte er sich in deren Heimat niederlassen, kehrte aber zurück in die Schweiz und trat 1915 eine Stelle als Oberarzt in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau an. Er verfolgte interessiert, was sein Doktorvater publizierte und kommentierte in einem Brief an einen Kollegen ein neues Buch schonungslos: «Typisch Bleuler! Rücksichtslos bis zum Fanatismus, und dabei oft danebenschiessend, aber voll Wahrheitslust.»

«Rorschach muss eine faszinierende, vielschichtige Gestalt gewesen sein, jemand der andere mitreissen konnte», urteilt Hell. Bleuler dürfte ihm zugestimmt haben. Denn als Rorschach 1922 im Alter von nur 37 Jahren an den Folgen einer Blinddarmentzündung gestorben war, schrieb Bleuler seiner Witwe: «Ihr Gatte war die Hoffnung der schweizerischen Psychiatrie für eine ganze Generation. Es gibt niemanden mehr, der sich mit ihm hätte vergleichen können.»

Dieses Porträt stammt aus dem Buch «Zürcher Pioniergeist» (2014). Es porträtiert 60 Zürcherinnen und Zürcher, die mit Ideen und Initiative Neues wagten und so Innovationen schufen. Das Buch kann hier bestellt werden.
Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende