Auf dem Smartphone leuchtet eine Benachrichtigung auf:

  • «Wie geht es Ihnen gerade auf einer Skala von sehr schlecht bis sehr gut?»
  • «Was tun Sie gerade?»
  • «Denken Sie gerade an irgendetwas Anderes als an das, was Sie aktuell tun?»

Mehrmals täglich, in unregelmässigen Abständen, erscheinen die immergleichen Fragen auf den Mobilfunkgeräten der 2250 Studienteilnehmenden zwischen 18 und 88 Jahren, welche dazu angehalten sind, diese umgehend zu beantworten. In der nachfolgenden statistischen Analyse der Harvard University (Killingsworth & Gilbert, 2010) zeigt sich ein überraschendes Bild:

Die Erwachsenen sind während 46,9 Prozent ihrer Wachphasen gedanklich nicht bei ihrer aktuellen Tätigkeit.

Am häufigsten tritt dieses Phänomen im Ruhezustand oder bei Routinetätigkeiten auf, beispielsweise beim Duschen und morgendlichen Zähneputzen. Aber auch vermehrt, wenn wir gestresst, müde oder gelangweilt sind, uns einer unliebsamen Aufgabe zuwenden, lange zuhören müssen oder wenn keine Belohnung für konzentriertes Arbeiten in Aussicht steht (Kane et. al, 2007; Szpunar et al., 2013; Seli et al., 2016, 2019).

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Insgesamt scheint der Akt des Gedankenwanderns – «mind-wandering» alltäglich und allgegenwärtig, dennoch eilt ihm ein schlechter Ruf voraus. So konnten Killingsworth & Gilbert (2010) in oben beschriebener, viel zitierter Untersuchung nicht nur die Häufigkeit des Tagträumens nachweisen, sondern auch zeigen, dass dieses negative Gefühle nach sich zieht – sogar, wenn die aktuelle Tätigkeit äusserst unangenehm ist und der Geist zu positiven Erlebnissen schweift. Auch nachfolgende Studien eruierten das Gedankenwandern als schädlich: es gehört zu den Hauptursachen von Autounfällen (z.B. Galera et al., 2012), kann Verhaltensänderungen infolge von Feedback blockieren (Kam et al., 2012), bei Schülerinnen und Schülern die Erinnerung an besprochene Unterrichtsinhalte erschweren sowie das Leseverständnis beeinträchtigen und somit schlechte Testleistungen begünstigen (Lindquist & McLean, 2011; Soemer et al., 2019; Szpunar et al., 2013).

Tagträume als Leerlauf des Gehirns?

Nicht zuletzt aufgrund der hohen Kosten und Risiken wurde das Phänomen des Tagträumens in den vergangenen Jahrzehnten intensiv beforscht. Dabei interessierte sich die Wissenschaft nicht nur für die Häufigkeit und den Kontext von abschweifenden Gedanken, sondern auch für dessen neurobiologische Grundlage.

Viel Beachtung fand in diesem Zusammenhang eine Untersuchung des US-amerikanischen Radiologen Marcus Raichle (2001), der mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) nachweisen konnte, welche spezifischen Hirnareale vergleichsweise stark aktiviert werden, wenn Versuchspersonen sich nicht auf eine Aufgabe im Aussen konzentrieren, sondern in Ruhe in der Röhre liegen und ihre Gedanken schweifen lassen. Dazu gehören der mediale präfrontale Kortex, der posteriore zinguläre Kortex, der mediale temporale Kortex und der Precuneus. Marcus Raichle bezeichnete dieses Netzwerk als «Default Mode Network (DMN)», das Ruhezustandsnetzwerk. Dieses Netzwerk verstummt, sobald sich die Versuchsperson wieder auf eine Aufgabe im Aussen fokussiert.

Später beschrieb Marcus Raichle gemeinsam mit seinem Kollegen Abraham Snyder (2007), dass bis zu 90 Prozent der Energie, welche das Gehirn verbraucht, in dieses Ruhezustandsnetzwerk fliesst.

Auch der Zusammenhang zwischen der Aktivierung des Ruhezustandsnetzwerks und dem Tagträumen wurde inzwischen mehrfach bestätigt (Gruberger et al., 2011; Mason et al., 2007; Andrews-Hanna et al., 2014; McKiernan et al. 2003, 2006).

Bei manchen Personengruppen scheint das Ruhenetzwerk überaktiv zu sein, beziehungsweise dessen Herunterregulierung erschwert, was mit häufigen geistigen Absenzen einhergeht: So weisen verschiedene Studien beispielsweise ein überaktives DMN bei Personen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder Patienten mit depressiven Episoden nach (Mohan et al., 2016). Diese verlieren sich häufig in Gedankenspiralen und berichten von Konzentrationsschwierigkeiten und einer hohen Ablenkbarkeit.

Tagträumen neu betrachtet

Paul Seli ist Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der Duke University und widmet sich seit mehreren Jahren der Erforschung des Tagträumens. Als Autor mehrerer wissenschaftlicher Artikel zu diesem Feld sieht er dessen aktuelle Ausrichtung durchaus kritisch: «Aus meiner Sicht ist das Problem der aktuellen Forschung zum Phänomen des Tagträumens, dass die meisten Studien grossteils so aufgebaut sind, dass man nahezu garantiert negative Effekte findet, aber keine Vorteile oder positiven Aspekte. So legte man den Versuchspersonen in den meisten Studien zum Gedankenwandern Aufgaben vor, die die Aufmerksamkeit äusserst stark beanspruchen und nur dann gut gelöst werden können, wenn man sich konstant darauf konzentriert», sagt Seli. «Wenn die Aufgaben so konzipiert sind, kommt man natürlich am Ende zum Ergebnis, dass Tagträumen, das ja definiert wird als aufgabenirrelevante Gedanken, die Leistung verschlechtert!»

Professor Seli, in seiner Freizeit ein passionierter Künstler und Musiker, arbeitet auf eine Neuausrichtung seines Forschungsfeldes hin: «Die Forschung sollte sich stärker auf die möglichen Vorteile des Gedankenwanderns konzentrieren: Inwiefern ist Tagträumen hilfreich für den Menschen?»

Einen ersten Vorstoss wagten Seli und sein Team im Rahmen einer Studie mit Schülerinnen und Schülern über ein Semester hinweg. «In dieser Studie haben wir das Tagträumen erstmals unterteilt in eine unwillentliche Form, bei der die Schülerinnen und Schüler zwar versuchen, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, aber daran scheitern, und eine willentliche Form, bei der die Schülerinnen und Schüler ihre Aufmerksamkeit absichtlich von der Lektion lösen und sich erlauben, ihre Gedanken schweifen zu lassen.» erklärt er.

Obwohl die Neigung zu unwillentlichem Gedankenwandern mit einer schlechteren Leistung in der Semesterprüfung zusammenhing, blieb der negative Effekt bei der willentlichen Form des Gedankenwanderns aus. «Dies legt nahe», erklärt Seli, «dass Menschen dazu in der Lage sein könnten, ihre Gedanken strategisch auf Wanderschaft zu schicken, beispielsweise wenn die Lehrperson Inhalte erklärt, die der Schüler bereits kennt, ohne Leistung einzubüssen. Möglicherweise könnten wir Menschen sogar darin schulen, stellenweise absichtlich in Tagträume abzugleiten, von denen sie profitieren können.»

Im absichtlichen, willentlichen Tagträumen sieht Seli eine mögliche Ressource: «Nehmen wir an, Sie sitzen im Wartezimmer Ihres Arztes oder stehen im Supermarkt an einer langen Schlange: hier könnten Sie Ihre Gedanken absichtlich schweifen lassen, um der Langeweile zu entkommen. Oder wenn Sie eine kreative Lösung für ein Problem suchen, kann es hilfreich sein, sich bewusst von den Begrenzungen des Denkens zu lösen und zu sehen, wo die Gedanken einen hintreiben. Mehrere Studien legen nahe, dass dies es uns erleichtert, neue Lösungen für ein Problem zu finden.»

Doch auch für uns bekannte Alltagstätigkeiten könnte das willentliche Gedankenschweifen wertvoll sein: «Denken Sie an eine Tätigkeit, die Sie gut beherrschen – ich denke dabei immer an das Gitarrespielen: dazu gibt es Evidenz, dass die Leistung bei gut geübten Aufgaben leidet, wenn man sich zu stark auf das Tun fokussiert, zum Beispiel auf die Bewegung der Finger. Bei solchen wohlbekannten Aktivitäten scheinen wir besser zu sein, wenn wir unsere Gedanken schweifen lassen.»

Trainiere deine Metakognition

Tagträumen kann also durchaus hilfreich sein: Um kreative Lösungen für Probleme zu finden, sich für einen Moment von den Anforderungen des Alltags zu befreien und eigenen Gedanken nachzugehen, Pläne für die Zukunft zu schmieden und sich mit dem eigenen Innenleben auseinanderzusetzen (Smallwood & Schooler, 2015; Mooneyham & Schooler, 2013).

Wichtig ist, dass wir lernen:

  • zu registrieren, ob wir momentan auf unsere Aufgabe oder Tätigkeit fokussiert sind oder tagträumen
  • wann welcher Modus hilfreich ist
  • unsere Gedanken bewusst auf Wanderschaft zu schicken und wieder zurückzuholen, wenn Konzentration erforderlich ist.

Die Fähigkeit, den eigenen Bewusstseinszustand zu betrachten, wird als Meta-Awareness bezeichnet. Diese können wir trainieren, indem wir immer wieder kurz innehalten und uns fragen: Wo stecke ich gedanklich? Worauf richte ich gerade meine Aufmerksamkeit? Ins Innen oder Aussen? In einem zweiten Schritt können wir überprüfen, ob dieser Zustand hilfreich ist.

Dabei wirken kurze Achtsamkeitsübungen unterstützend. Diese helfen einerseits dabei, die Aufmerksamkeit im Moment ins Hier und Jetzt zu verlagern, verbessern bei regelmässiger Übung aber auch die Meta-Awareness (Smallwood & Schooler, 2015).

Buchtipp: Lotte, träumst du schon wieder?


Verträumten Kindern fällt es besonders schwer, den Fokus im richtigen Moment auf eine Aufgabe zu lenken und die Aktivität des Default Mode Networks zu unterdrücken (Bozhilova et al., 2018; Seli et al., 2015).

Erwachsene reagieren darauf oft mit Forderungen wie «du musst dich halt konzentrieren!» oder «hör auf zu träumen!», was das Selbstwertgefühl der Kinder schädigt und dennoch keinen Weg aufzeigt, wie ihnen dies gelingen könnte.

Im Buch «Lotte, träumst du schon wieder?» der Psychologen Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund lernen verträumte Kinder und ihre Eltern im Rahmen einer spannenden Geschichte wissenschaftlich überprüfte Methoden kennen, um sich besser zu konzentrieren. Gleichzeitig erfahren die Kinder, dass Tagträumen eine wertvolle Fähigkeit ist, die es sich zu bewahren gilt.

Dialog

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