Einige Bilder sind um die Welt gegangen. Der Blick vom Mond aus auf unseren Blauen Planeten im Jahr 1968 skalierte die Proportionen zwischen nah und fern ganz neu. Als Mahnmal für atomare Kriegsführung hält sich der Atompilz von Hiroshima im kollektiven Gedächtnis. Ansichten des erfolgreichsten Zeppelins, der 1928 auf seinem Jungfernflug über Friedrichshafen schwebte, bannt auch das Staunen der Augenzeugen bis heute.
Diese Zeugnisse historischer Augenblicke weisen auf eine Zeit zurück, als noch nicht in jedem mittelständischen Haushalt ein Fotoapparat vorhanden war. Wir verdanken sie technologischen Fortschritten ebenso wie der militärischen Aufrüstung. Seit jedes neue Mobilfunkgerät eine Kamera integriert und uns digitale Plattformen ermächtigen, auch persönliche Ansichten laufend zu teilen, dringt die Welt aus einer gigantischen Anzahl von Bildern unterschiedlichster Urheberschaft in unser Bewusstsein. Jedes Stichwort beantworten Suchmaschinen mit einem Kaleidoskop auch an bildlicher Information, jüngere Tools der Telekommunikation führen uns täglich andere Bilder zu.
Bildübertragung gefährdet, Mutter gefährdet
Auch der Lockdown im Frühjahr hat die Frage aufgeworfen, was es bedeutet, wenn wir Dialoge – etwa auf Social-Media-Plattformen oder über Messenger-Dienste – zunehmend über Bilder gestalten. «Auf ein geteiltes Bild wird mit einem anderen geteilten Bild geantwortet, und vielfach kommt gar kein Text ins Spiel. Das mögen einige als zivilisatorischen Komplexitätsverlust beklagen, doch vielleicht müssen wir erst einmal ernst nehmen, was es heisst, dass wir uns mit Bildern und über Bilder austauschen. » Für Emmanuel Alloa, Professor für Ästhetik und Philosophie an der Universität Freiburg, ist klar: Auch die Wissenschaften können heute Bilder als Wissenslieferanten nicht mehr ohne weiteres der Sprache zu- und unterordnen. «Sinn zirkuliert auch über ganz andere Kanäle, und es gibt neben der logozentrischen auch eine grafische Vernunft.»
«Das Reich der Bilder ist kein machtfreier Raum, auch dort sind Vereinheitlichungszwänge und Ausschlussmechanismen am Werk.»Emmanuel Alloa, Professor für Ästhetik und Philosophie
Gerade die letzten Monate zeigten, «dass das, was wir über die Welt wissen, vermehrt über Bilder ins heimische Wohnzimmer kommt». Und mehr noch: «Über Bilder wirken wir in die Welt zurück und greifen auf sie ein.» Im Alltag nehmen wir dies als selbstverständlich hin. «Der globale Zugriff auf die sichtbare Wirklichkeit ist technologisch erreicht, und zwar über Bildmedien, und doch verstehen wir noch immer so schlecht, wie es dazu kommt, dass diese äusserste Nähe in äusserste Ferne umschlägt.» Während der Bombardierung seiner Heimat im Jahr 2015 versuchte der palästinensische Künstler Taysir Batniji, über Skype und Whatsapp den Kontakt zu seiner Mutter zu halten, die im Gazastreifen festsass. Die daraus entstandenen Screenshots zeigen, wie eng persönliches Erleben und politische Felder ineinander verzahnt sind: Das Bild der Mutter ist gefährdet, eine instabile Datenübertragung löst Gesicht und Oberkörper immer wieder in grobe Pixel auf.
Eine massgebliche Kulturtechnik
Batnijis Werkserie «Disruptions» belegt die Zerreissprobe, auf die uns diese neue Form der Fernsicht stellt. Sie war in «Le supermarché des images» (PDF) zu sehen, einer gross angelegten Ausstellung in der Galerie nationale du Jeu de Paume in Paris im Frühling dieses Jahres, die wegen Corona schon wenige Wochen nach der Eröffnung in den virtuellen Raum verlegt wurde. Emmanuel Alloa hat als Co-Kurator sein Wissen um die vielschichtigen Wechselwirkungen zwischen Bild, Konsum und Mobilität eingebracht.
«In ihrer sichtbarmachenden Kraft gehören Bilder zu den massgeblichen Kulturtechniken. Der in der Ausstellung unternommene Versuch, die Prozesse einer globalisierten Ökonomie zu visualisieren, verweist auf eine lange Geschichte bildgebender Verfahren in den Naturwissenschaften zurück.» Das manuelle Zeichnen pharmazeutischer Pflanzen, Teleskope zur Beobachtung von Gestirnen oder Röntgenstrahlen in der medizinischen Diagnostik markieren nur wenige Etappen in der Geschichte bildgestützten Wissens. «Es wäre allerdings verkehrt, Bilder nur als Prothesen oder Verlängerungen unserer natürlichen Wahrnehmung zu begreifen; viele Bilder stellen unsere Wahrnehmung regelrecht vor Herausforderungen und hinterfragen unser ethisches Normengerüst. Dies immer dann, wenn sie uns mit Sichtweisen konfrontieren, die nicht in unser Weltbild passen.» Oder wenn sie uns irritieren in der Behaglichkeit, in der wir die Schattenseiten der vernetzten Welt ausblenden.
Manches bleibt übersehen
Von kulturpessimistischen Wertungen der Bilder – von der Übersättigung oder vom Etikett «gut» oder «schlecht» – hält sich Alloa gänzlich fern. Die Aufgabe seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung sieht er vielmehr darin, zu prüfen, welche Wirklichkeiten trotz der Allgegenwart der Bilder undargestellt bleiben. «In den Hochgeschwindigkeitszirkulationen unserer thermoindustriellen Spätmoderne flackert vieles nur kurz auf und bleibt daher übersehen. Gerade solches, was nicht mit eigener Stimme Geltungsansprüche stellen kann, bedarf der Anwaltschaft.» Das bedeutet auch, hinter dem Bilderstrom versteckte Interessen in den Blick zu nehmen.
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«Wir gehen davon aus, dass Medien transparente Kanäle sind, durch die alles unbeeinflusst hindurchgeht.» Ein Missverständnis: «Das Reich der Bilder ist kein machtfreier Raum, auch dort sind Vereinheitlichungszwänge und Ausschlussmechanismen am Werk, wie etwa die von uns ausgestellten Arbeiten der feministischen US-Künstlerin Martha Rosler zeigen. Es gibt Bilder, die Stereotypen bestätigen und verstärken oder aber die Betrachtenden dergestalt in Beschlag nehmen, dass sie keine kritische Auseinandersetzung erlauben.» Die Werbung weiss raffiniert mit solchen Strategien umzugehen, indem sie mit «Beauties» und deren Accessoires unsere Vorstellung von Glück, Gesundheit, Wohlstand modelliert und dieses Schönheitsideal per Cargo in die ganze Welt verschifft.
«Alle neuronalen Netzwerke werden trainiert für intelligente Maschinen, die letztlich auf Überwachung eingestellt sind.»Mediengruppe !Bitnik
Wiederholt bezieht sich Alloas Forschung auf Werke der bildenden Kunst. Das kommt nicht von ungefähr. Unabhängig von funktionalen Sachzwängen und offen in ihren Ergebnissen, verlässt oder verwandelt sie gewohnte Blickweisen, thematisiert die Wirkungsmacht von Bildern oder stellt sie kritisch in Frage. «Die Geschichte der Kunst ist ein fortgesetztes Experiment darin, Betrachterinnen und Betrachter mit der Fähigkeit zu belehnen, das Gegebene nicht einfach hinzunehmen, sondern zu anderen Auffassungs- und Umgangsweisen vorzustossen. Das beginnt schon damit, dass überhaupt Personen, Kollektive oder Zusammenhänge ins Bild gerückt werden, die bis dahin als unbedeutend oder vernachlässigbar galten.» Im genannten «Supermarkt der Bilder» löste etwa die Video- und Fotoarbeit der Künstlerin Lauren Huret diesen Anspruch ein: Sie zeigt IT-Arbeiterinnen in Manila, die sich – ganz entgegen unserem Vertrauen in überpersonale Algorithmen – die Augen wund schauen, um unzulässiges Bildmaterial zu zensieren. Huret stellt sie in die Nachfolge der Heiligen Luzia. Der Legende nach entzog sich die Heilige der Verführbarkeit dadurch, dass sie ihr Augenlicht opferte. Das Trauma ist der Preis für eine Welt, die allen alles zeigen will, und die Verletzlichen zur Korrektur aufruft.
Zu Besuch bei Assange
Der vernetzte Computer war noch relativ jung, als die Schweizer Medienkünstler Carmen Weisskopf und Domagoj Smoljo um 2000 zur !Mediengruppe Bitnik zusammenfanden. Seither kreist das Schaffen des Duos um Machtverhältnisse und um die Intransparenz von Netzwerken, die sich nicht zuletzt an Daten privater Nutzer nähren. «Eine neuere Dimension von Bildern besteht darin, dass sie, einmal hochgeladen, auf irgendeine Art und Weise zum Daten-Input werden für den militärisch- industriellen Komplex», sagt Weisskopf. «Alle neuronalen Netzwerke werden trainiert für intelligente Maschinen, die letztlich auf Überwachung eingestellt sind.» Diesen Umstand nimmt !Bitnik nicht hin, sondern macht sich das Überwachungsprinzip zu eigen.
Parcel is now at South London Mail Centre: http://t.co/gjvf9tar http://t.co/90PENfKf
— !Mediengruppe Bitnik (@bitnk) January 17, 2013
«Delivery for Mr. Assange» was just awarded with the Golden Cube as best media installation at Kasseler Dokfest (D) pic.twitter.com/UHISQgQqhq
— !Mediengruppe Bitnik (@bitnk) November 17, 2013
Mehrere tausend Menschen sahen zu, als im Januar 2013 eine Kamera auf dem Postweg an Julian Assange gelangte: Durch ein Guckloch in der Verpackung übermittelte ein GPS-Sender in Echtzeit Bilder des Transportwegs bis zur ecuadorianischen Botschaft in London. Eine Webseite und der Twitter-Account des Künstlerduos wurden zum Interface dieser Sonde, die ungehindert Förderbänder, Lagerhallen und das Innere eines Lieferwagens passierte. Nach 32-stündigem Livestream bedankte sich der Wikileaks-Gründer am 17. Januar mit einem Selfie an die Absender und Unterstützer. «Postal Art is Contagious!» steht auf dem Zettel, den er vor die Kamera hält. «Auch wenn es sich nicht aus eigener Kraft vorwärtsbewegte – unsere Aktion hat das Paket zum Akteur werden lassen. » Das Projekt «Delivery for Mr. Assange» war für !Bitnik eine Live-Performance, auch wenn die Künstler physisch keinen Publikumskontakt hatten. Die Arbeit reflektiert, wie intensiv vernetzte Daten herkömmliche Verhältnisse zwischen Körper und Bild aus den Angeln heben.
Schliesslich sind es Bilder, die längst über kollektives Verhalten Kontrolle übernehmen: Die steigende Kurve von Covid-Infektionszahlen hält uns auf Abstand voneinander oder verändert unsere Einkaufsgewohnheiten, Messvorgänge – darunter Schlaf- oder Bewegungs- Apps – empfehlen sich zur Gesundheitsvorsorge, stecken als visuelle Information die Grenzen zwischen öffentlich und privat neu ab. Einfach ein Bild? – Das gibt es nicht mehr.