Das musst du wissen

  • Pro Jahr kommen in der Schweiz 4000 Neugeborene mit Alkoholschäden zur Welt.
  • Dies, weil die Mutter in der Schwangerschaft Alkohol getrunken hatte.
  • Eine Studie zeigt: 90 Prozent der Frauen geben an, in der Schwangerschaft nie zu trinken, viele tun es aber dennoch.

Jenny führt «ein Leben im Nebel», wie sie es nennt. Sie kann sich auf nichts konzentrieren und hat Mühe, ihren Alltag zu strukturieren. In ihrer Küche hängt ein Aufgabenplan. «Hier stehen einfach die ganz normalen Sachen drin. Am besten kommt immer zuerst die Wäsche. Weil wenn die bis zu einer bestimmten Zeit nicht fertig ist, dann hänge ich die nicht auf. Dann wasche ich die fünfmal.» Jenny ist kaum in der Lage, Handlungen zu Ende zu führen, Dinge dort hinzulegen, wo sie hingehören – typische Symptome für Menschen mit der Fetalen Alkoholspektrumstörung, FASD. Sie ist auf Hilfe angewiesen, um ihren Alltag zu meistern und ihre drei Töchter aufzuziehen. Und selbst mit dieser Unterstützung lebt sie in der ständigen Angst, im Chaos zu versinken. Ihr Leben und ihr Leiden zeigt der Filmemacher Jean Boué im kürzlich erschienenen Dokumentarfilm «Alkoholkinder». Im Film gibt Jenny einem Leiden ein Gesicht, mit dem viele in unserer Gesellschaft leben, das aber oft nicht als solches erkannt wird.

WDR-Doku «Alkoholkinder»

Fachpersonen wissen zu wenig

Laut Schätzungen sind in der Schweiz jährlich knapp 4000 Neugeborene von FASD betroffen. Die Erkrankung zeigt sich in Lernschwierigkeiten, Wahrnehmungsstörungen oder psychischen Beeinträchtigungen. Menschen mit stark ausgeprägtem Krankheitsbild haben darüber hinaus äussere Auffälligkeiten wie schmale Lidspalten, eine sehr schmale Oberlippe oder kleine Augen.

Was ist die Alkoholspektrumstörung FASD?

  • Als Folge von FASD treten körperliche, mentale oder soziale Auffälligkeiten auf. Das können Sprach- und Sehstörungen sein, Entwicklungsstörungen, kognitive und psychische Auffälligkeiten sowie Verhaltensstörungen.
  • Neurologische Schäden können sich in schulischem Scheitern oder Substanzmissbrauch zeigen, psychische Schäden über die ganze Lebenszeit hinweg. Oft ähneln die Symptome jenen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS.
  • Die gravierendste und sichtbarste Form, das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), macht rund 10 Prozent der Fälle aus. FAS zeigt sich körperlich etwa in einer verkleinerten Kopfform, einer vorgewölbten Stirn, einem verkürzten Nasenrücken, kleineren Augen, sehr schmalen Oberlippen, einer abgeflachten Rinne zwischen Oberlippe und Nase oder tief angesetzten Ohren. Menschen mit FAS können ihren Alltag selten ohne Hilfe bestreiten und sind ein Leben lang auf Unterstützung angewiesen.

«Wir sehen in unseren Studien viele Kinder, bei denen wir FASD vermuten», sagt Dagmar Orthmann Bless, Lehr- und Forschungsrätin am Departement für Sonderpädagogik der Universität Freiburg. «Aber wir wissen es dann doch nie mit Sicherheit. Weil darüber kaum gesprochen wird.» Darum begann sie, über FASD zu forschen. Demnächst wird Dagmar Orthmann Bless erste Resultate publizieren. Sie hat zunächst untersucht, wie viel die breite Bevölkerung sowie angehende Fachpersonen – Studierende der Sonderpädagogik und Hebammen – über die Fetale Alkoholspektrumstörung wissen. Weiter erfragte sie die Einstellungen der Leute in Bezug auf Alkoholkonsum während der Schwangerschaft.

Die Ergebnisse hätten ihre Vermutungen bestätigt, sagt Dagmar Orthmann Bless. Sowohl die Bevölkerung als auch die künftigen Fachpersonen unterschätzten die Häufigkeit von FASD um ein Vielfaches. Bemerkenswert ist darüber hinaus ein weiterer Befund: Über 90 Prozent der befragten Frauen gaben in der Studie zwar an, spätestens ab der Feststellung einer Schwangerschaft keinen Alkohol mehr zu trinken. Doch Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass das nicht die ganze Wahrheit ist: Bis zu 60 Prozent der Schwangeren konsumieren gelegentlich Alkohol. «Die Leute scheinen zu wissen, welche Haltung sozial akzeptiert ist», sagt Dagmar Orthmann Bless. «Und trotzdem handeln sie nicht danach.» Warum aber steht die Verhaltensabsicht vieler Frauen in solchem Widerspruch zu ihrem tatsächlichen Trinkverhalten?

Risikogruppe: gebildete Frauen

«Über FASD zu sprechen, bedeutet das Aufdecken einer Schuld. Einer Schuld, die nicht nur den Müttern zukommt, sondern die auch die Gesellschaft trägt», sagt die Forscherin. «Wir alle erwarten, dass Leute Alkohol trinken. Wir erwarten aber auch, dass sie den Alkoholkonsum im Griff haben.» Gerade bei gut gebildeten Personen mit entsprechenden finanziellen Ressourcen seien Trinkgelegenheiten häufig und etabliert. «Das sind emanzipierte Frauen. Sie haben schon vieles verwirklicht; ein Leben, eine Karriere. Dann werden sie schwanger und bekommen eine Liste mit vielen Empfehlungen», sagt sie. «Und dann fragen sie sich womöglich: Was davon ist denn jetzt wirklich wichtig? Ein Glas Alkohol soll schaden? Das kann doch nicht sein.»

Tatsächlich können Fachpersonen nicht nachweisen, ab welcher Menge genau der Fötus Schaden nimmt. Fest steht aber, dass der Alkohol uneingeschränkt zum ungeborenen Kind übergeht. Und weil die Leber des Fötus noch unreif ist, kann er den Alkohol schlecht abbauen. Bereits geringe Alkoholmengen können darum theoretisch grossen Schaden anrichten. Das sei vielen Fachpersonen und Schwangeren nicht bewusst, sagt Tina Fischer, leitende Ärztin an der Frauenklinik St. Gallen. Als Folge davon werde die Wirkung von Alkohol verharmlost.

Zeit, Behinderung beim Namen zu nennen

Diese Verharmlosung des Alkohols nimmt Dagmar Orthmann Bless sehr ernst. Sie will nicht nur über FASD forschen, sondern vor allem auch aufklären. Deshalb plant sie eine Sensibilisierungskampagne. Die schwangeren Frauen zu erreichen, ist aber nicht einfach: «Freiwilligkeit und Privatheit haben bei uns einen hohen Stellenwert», sagt Orthmann Bless. Das zeigte sich auch, als sie den Fragebogen für ihre Studie testete: Sie fragte die Leute, was sie davon hielten, den Alkoholkonsum von Schwangeren etwa anhand von Haarproben zu kontrollieren. «Fast alle Befragten haben das abgelehnt», sagt sie. «Es ist nicht en vogue, jemandem etwas zu verbieten oder die Leute gar zu kontrollieren.» Der hohe Wert der Privatheit in unserer Gesellschaft schneide die Leute aber auch von Hilfe ab. «Darum stehen wir vor der Frage, wie wir Schwangere, aber auch deren Umfeld dazu bewegen können, sich selbstständig zu informieren.» Derzeit plant die Wissenschaftlerin daher kleine Spots im Fernsehen und auf Social Media. «Die sollen den Leuten einen Floh ins Ohr setzen, ihnen einen Denkanstoss geben.» Für die Umsetzung ihrer Ideen sucht Orthmann Bless derzeit Kooperationen mit verschiedenen Organisationen und Geldgebern.

«Über FASD zu sprechen, ist auch für die Betroffenen wichtig», sagt Orthmann Bless. Sie habe an Tagungen in Deutschland viele Menschen mit FASD getroffen, die erst im Erwachsenenalter eine Diagnose bekommen haben. Alle seien froh gewesen, endlich einen Namen für ihre Beeinträchtigungen zu haben – aber alle hätten sich die Diagnose früher gewünscht.

Auch Jenny sagt im Dokumentarfilm, es sei schwer, damit zu leben, dass sie ein Leben lang auf Unterstützung angewiesen sein werde. Aber die Diagnose habe ihr auch eine Last von den Schultern genommen. «Dieses Gefühl, du bist einfach zu blöd zum Leben, das habe ich jetzt nicht mehr so.»

Hilfe für Betroffene und weiterführende Informationen bei Sucht Schweiz
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